Der Nebelkönig (German Edition)
anderes Haus und
eine ganz andere Sallie zeigten.
Sie öffnete ihre Augen und sah
sich um. Das hübsche, freundlich eingerichtete Zimmer war ihr vollkommen fremd,
obwohl sie alles darin so gut kannte wie ihre eigene Hand. Dort das Bett mit
den hohen Pfosten und der geblümten Überdecke. Sie schlief darin, seit sie
laufen konnte. Dort am Fenster stand der kleine Rosenholzsekretär. Sallie
wusste, ohne seine Klappe zu öffnen, was sie darin verwahrte: ihre
Schreibutensilien – das cremefarbene, dicke Briefpapier, die veilchenduftende
Tinte, das Bündel bereits gestutzter und gehärteter Federkiele, das Etui mit
dem Federmesser und dem weichen, tintenfleckigen Lederläppchen und ihr
Tagebuch, in feines rotes Saffianleder gebunden.
Sie ging zum Fenster und blieb
voller Staunen stehen. Diesen Ausblick hatte sie noch nie zuvor gesehen. So
weit ihr Auge reichte, erstreckte sich ein lichter Park mit schneebedeckten
Rasenflächen und großen, kahlen Bäumen. Es hatte begonnen zu schneien. Sie
hatte noch nie zuvor Schnee gesehen, aber erinnerte sich daran, wie sie im
letzten Jahr mit dem Schlitten ausgefahren und unten auf dem zugefrorenen See
Schlittschuh gelaufen war.
Sallie rieb sich über die
Schläfen. Was war nur los mit ihr? Ob sie wirklich krank war und sich deshalb
so seltsam fühlte? Sie legte sich auf ihr Bett und starrte ihr Zimmer an.
Als es klopfte, reagierte sie
nicht gleich darauf. Die Tür öffnete sich und Frau Lulezime trat ein. »Der Apotheker«,
sagte sie und ließ einen schwarz gewandeten kleinen Mann mit einer großen
Ledertasche in der Hand eintreten. Sallie richtete sich hastig auf und musterte
ihn mit leiser Enttäuschung – oder war es Erleichterung? Wen auch immer sie
erwartet hatte, er war es nicht.
Der Apotheker erwiderte ihren
fragenden Blick aus schokoladenbraunen Augen. »Fräulein Sarah«, grüßte er und
zog sich einen Stuhl heran, stellte seine Tasche ab und lehnte seinen
Spazierstock gegen das Bett. »Sie befinden sich nicht wohl, sagte man mir?«
»Ich habe Kopfschmerzen«,
erwiderte sie zögernd. Sie war sich der Gegenwart ihrer Gouvernante bewusst,
die sich schweigend zurückgezogen hatte und alles mit anhörte, was Sallie dem
Apotheker zu sagen hatte. Sallie seufzte. Nie und nimmer würde sie allein unter
vier Augen mit einem Mann in ihrem Zimmer sprechen können, also musste Frau
Lulezime eben zuhören.
»Etwas ist seltsam«, begann
sie also, während der Apotheker ihre Temperatur fühlte. »Ich erinnere mich an
viele Dinge nicht, die ich wissen müsste. Und ich habe Erinnerungen an Dinge,
die nie geschehen sind.« Ausgesprochen klang es noch verrückter, als sie
befürchtet hatte.
Der kleine Mann nahm ihr
Handgelenk und begann ihren Puls zu zählen. Sallie betrachtete ihn, während er
das tat. Sein straff zurückgekämmtes und in einen Zopf gebundenes Haar war graubraun
und weiß und sein Gesicht voller Falten. Sie kannte Meister Ludin doch schon so
lange, warum also hatte sie einen jüngeren Mann erwartet, den eine dunkle,
gefährliche Aura umgab wie ein seidener Mantel? Und wieso wartete sie auf den
Klang von Flügelrauschen und heiserem Vogelgekrächz, wenn sie den alten Mann
sah? Sallie schüttelte unwillkürlich den Kopf.
Er sah ihr Kopfschütteln und
erwiderte es beruhigend. »Es ist nichts Ernstes«, sagte er. »Ein leichtes Fieber,
wahrscheinlich haben Sie sich verkühlt, gnädiges Fräulein. Ich gebe Ihnen etwas
gegen die Kopfschmerzen.« Er bückte sich, um in seiner Tasche herumzuwühlen.
Sallie erinnerte sich an die unordentliche Apotheke, die sie mit ihm aufgeräumt
hatte, und lächelte unwillkürlich. Dann verzog sie ärgerlich das Gesicht. Das
stimmte nicht. Meister Ludin wohnte im Pförtnerhaus und hatte dort auch ein
Zimmer, in dem er seine Arzneien zubereitete, aber das war so sauber und ordentlich,
dass noch nicht einmal Frau Lulezime etwas daran auszusetzen fand.
»Ich erinnere mich an die
falschen Dinge«, sagte sie laut und ein wenig zornig. Der Zorn lag schützend
über einem dunklen, tiefen Graben der Angst. Verlor sie den Verstand wie Milot,
der Pferdeknecht, der nicht mehr wusste, wie er hieß und wer er war, seit ihn
ein Pferd gegen den Kopf getreten hatte?
»Habe ich mir den Kopf
gestoßen?«, fragte sie den Apotheker.
Meister Ludin hörte auf, Pülverchen
abzumessen und in ein Glas Wasser zu schütten, und sah sie verwundert an.
»Nicht dass ich wüsste, gnädiges Fräulein.« Er blickte sich zu Frau Lulezime
um, aber die Gouvernante
Weitere Kostenlose Bücher