Der Nebelkönig (German Edition)
Augen.
»Rabe«, sagte Sallie erstaunt.
»Du solltest nicht hier sein. Genauso wenig wie Redzep.«
»Du auch nicht«, erwiderte der
Rabe.
Sallie schlug die Hand vor den
Mund. »Wieso kannst du sprechen? Du bist ein Vogel!«
Der Rabe lachte krächzend. »Du
hast angefangen«, sagte er trocken. »Wer mit einem Vogel spricht, muss sich
nicht wundern, wenn dieser antwortet.«
Sallie setzte sich auf die
oberste Stufe und lehnte den Kopf an die Wand. »Was ist los?«, fragte sie. »Ich
fühle mich, als wäre ich zwei Personen. Und eine davon findet das hier vollkommen
irrsinnig!«
Der Rabe landete neben ihrer
Hand auf dem Boden. Er glättete sein Gefieder und musterte sie eindringlich.
»Hör zu, mein Mädchen. Du darfst nicht verweilen. Hier läuft die Zeit davon.
Der Nebel ...«
Sallie hielt sich die Ohren
zu. »Kein Wort vom Nebel«, sagte sie scharf. »Das macht mir Kopfschmerzen!«
Dann sprang sie auf.
»Lies dein Buch«, rief er ihr
hinterher.
Sallie blieb stehen. Das Buch.
Sie hatte das Buch ganz vergessen. »Ich kann nicht«, antwortete sie
verzweifelt. »Redzep hat es zerstört.«
»Das macht nichts«, antwortete
der Rabe. Dann hörte sie einen krächzenden Aufschrei und wildes Geflatter und
eine Stimme, die rief: »Räudiges Federvieh. Was treibst du hier im Haus?
Kschsch, mach, dass du wegkommst!«
Sallie fuhr herum und sah, wie
der Rabe durch ein offen stehendes Fenster flüchtete.
Der Graf klopfte sich die
Hände ab und zuckte mit den Schultern. »Zu schade, dass ich gewöhnlich keine
Pistole bei mir zu tragen pflege.«
»Was für ein Glück«, sagte
Sallie kühl. »Mein Vater wäre wenig entzückt über Löcher in der Täfelung und
Pulvergestank in den Fluren.«
Der Graf nahm die
Zurechtweisung mit einer kleinen Neigung seines Kopfes zur Kenntnis. »Mein Fräulein«,
sagte er, »Sie sind so schnell geflohen, dabei hatten wir unser Gespräch noch
gar nicht beendet.«
»Was mich betrifft, habe ich
die Konversation durchaus als beendet betrachtet, Herr Graf«, erwiderte Sallie,
die sich immer noch darüber ärgerte, dass er den Raben verscheucht hatte.
»Sarah«, sagte der Graf
eindringlich und nahm ihre Hand. »Wir sind unter uns, sollen wir nicht die Förmlichkeiten
beiseitelassen? Wir kennen uns nun schon so lange und so gut ...«
Sallie hob das Kinn. »Ich kann
mich nicht erinnern, dass ich Sie vor dem heutigen Tag mehr als nur flüchtig
und aus der Ferne gesehen hätte.«
Er seufzte, ließ ihre Hand aber
nicht los. »Du lässt dich von der Zeit gefangen halten. Das ist nicht nötig, meine
Liebe. Eben hast du schon gezeigt, dass du die Zeit beherrschst – nicht
umgekehrt.«
Ein kalter Luftzug aus einer
nicht erkennbaren Richtung ließ Sallie frösteln.
»Was haben Sie mir also zu
sagen?«, fragte sie knapp und nahezu unhöflich.
»Sarah«, begann er und fing
ihren Blick mit dem seinen ein. Er suchte nach Worten, und Sallie verlor sich
in seinen Augen, die so strahlend waren und nicht golden oder silbern, wie sie
gedacht hatte, sondern gelb und wild. Sallie bemerkte, dass sie schneller
atmete, und senkte die Lider, um ihr klopfendes Herz zu beruhigen.
Der Druck seiner Hand war warm
und vertraut, und sie musste an sich halten, um sich nicht in seine Arme zu
schmiegen. »Sarah«, flüsterte er ihr ins Ohr, »dies hier ist deine Welt, du bestimmst
über das, was geschieht. Hier können wir in alle Ewigkeit glücklich miteinander
sein. Muss ich dich denn wirklich daran erinnern? Ich bin der einzige Mann, den
du je geliebt hast.« Er legte seinen Arm um sie.
Sallie lauschte dem süßen
Klang der Worte und neigte ihm ihren Kopf entgegen, als ein heiseres, hässliches
Krächzen sie aus der Versunkenheit riss. Sie wand sich aus der Umarmung und verschränkte
abwehrend die Arme.
»Was redest du?«, fragte sie
atemlos. »Ich habe noch nie einen Mann geliebt. Ich bin noch keine vierzehn
Jahre ...« Die Worte versiegten, während sie sie aussprach. Der hohe Spiegel,
der schräg gegenüber an der Wand hing, zeigte ihr Bild, und es war nicht das
eines Kindes. Die junge Frau, die sie ernst und ein wenig ängstlich anblickte,
war ihr gleichzeitig fremd und zutiefst vertraut.
Sallie ächzte und schloss die
Augen. Sie spürte, wie er sich näherte, und roch den Duft, der seinen Kleidern
entstieg. »Sarah, du solltest dich erinnern«, murmelte er und wiederholte:
»Dies ist deine Welt. Du bestimmst, was geschieht.«
Sallie riss die Augen auf.
»Was willst du von mir, Bardh?«
Sein Gesicht war so nah,
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