Der Nebelkönig (German Edition)
schüttelte den Kopf.
Sallie rutschte unzufrieden
ein wenig tiefer und senkte das Kinn auf die Brust. Ihr Kopf tat weh.
Vielleicht hatte sie ihn sich ja gestoßen und keiner wusste davon?
»Hier, Fräulein Sarah. Trinken
sie das.« Der Apotheker reichte ihr das Glas, nachdem er das Pulver mit einem
Stäbchen umgerührt hatte. Sallie musterte das trübe Wasser misstrauisch.
Meister Ludin lachte und schloss seine Tasche. »Es schmeckt nicht so schlecht«,
versicherte er. »Nur ein wenig bitter. Aber Sie sind ja nicht zimperlich,
gnädiges Fräulein.« Er blinzelte ihr zu und stand auf.
Sallie seufzte und schluckte
das Gebräu mit Todesverachtung hinunter. Sie schüttelte sich und gab ihm das
Glas zurück. »Es war scheußlich bitter«, sagte sie vorwurfsvoll.
Er lächelte auf sie hinunter.
Sallies Blick sprang zum Knauf seines Stockes, sie hielt den Atem an. Es war
ein ganz gewöhnlicher Spazierstock mit einem ganz gewöhnlichen Knauf aus
Messing, unverziert und abgegriffen. Entspannt schloss sie die Augen. »Wahrscheinlich
habe ich nur schlecht geträumt«, murmelte sie.
Der Apotheker legte kurz seine
Hand auf ihren Kopf. »Schlafen Sie jetzt wohl, Fräulein Sarah. Ich sehe morgen
noch mal nach Ihnen.«
Sie hörte seine regelmäßigen
Schritte das Zimmer verlassen, gefolgt von Frau Lulezimes energisch klackenden
Absätzen. Dann schloss sich die Tür, und Sallie sank in einen unruhigen
Schlummer, in dem ein Wolf durch Nebelschwaden schnürte und ein Rabe mit
menschlicher Stimme nach ihr rief.
Sie erwachte mit einem Ruck
und wusste nicht, wo sie sich befand. Das war nicht der Schlafsaal des Küchenpersonals.
Dann sank sie mit einem
erleichterten Seufzer zurück. Nein, sie gehörte ja nicht mehr zur Küche. Sie
war jetzt Gehilfin des Apot... Nein.
Sallie setzte sich auf und
schlug mit beiden Fäusten auf die Bettdecke. »Was ist nur LOS mit mir?«, rief
sie wütend.
»Ah, sie ist wach«, hörte sie
eine fröhliche Stimme von draußen rufen. Die Tür sprang auf und eine hübsche,
rothaarige junge Frau kam herein. »Sallie, meine Süße, wie geht es dir?«
»Cousine Kaltrina«, rief
Sallie und breitete die Arme aus. »Wie schön – ich hatte ganz vergessen, dass
du schon angekommen bist!«
Kaltrina umarmte Sallie und
küsste sie auf beide Wangen. Dann hielt sie Sallie von sich ab und betrachtete
sie. »Du bist eine richtige junge Dame geworden«, sagte sie.
Sallie fühlte, wie sie rot
wurde. »Ach du«, sagte sie verlegen und lenkte ab: »Was macht dein schöner
Verlobter, hast du ihn mitgebracht?«
Das hübsche Katzengesicht mit
den strahlend grünen Augen verdüsterte sich ein wenig. »Luan hat noch bei
Freunden haltgemacht«, sagte sie kurz. »Er kommt aber in ein paar Tagen nach.
Komm, Schatz, verdirb mir nicht die gute Laune. Sag, wie geht es dir? Du bist
krank, hat dein Vater gesagt.«
Sallie schwang die Beine aus
dem Bett. Sie trug ihr Nachmittagskleid, wie sie jetzt erst feststellte, und
die Rüschen und Falten waren ganz zerdrückt. Kaltrina glättete Sallies Spitzenkragen
und zupfte dabei den Smaragd heraus, den Sallie an einem dünnen goldenen
Kettchen unter dem Kleid verbarg.
»Was hast du denn da?«, fragte
ihre Cousine neugierig.
Sallie zog ihr das Schmuckstück
aus den Fingern und ließ es wieder unters Kleid gleiten. »Nichts«, sagte sie
kurz.
»Der Anhänger kommt mir so
bekannt vor, hat er nicht deiner Mutter ge...« Kaltrina unterbrach sich und
räusperte sich verlegen.
Sallie stand auf und fuhr mit
den Fingern durch ihre zerzausten Haare. »Warte, ich kämme dich«, sagte
Kaltrina, erleichtert über die Ablenkung. »Du siehst aus, als hätte ein Rabe
auf deinem Kopf genistet.« Sallie zuckte zusammen.
Draußen vor dem Haus hörte sie
die Köchin keifen: »Verschwinde, du Lumpenbengel. Was lungerst du immer noch
hier herum? Warte, ich rufe die Knechte mit den Hunden!«
Kaltrina ging zum Fenster und
blickte hinaus. »Was ist denn das für ein Aufruhr?«, fragte sie amüsiert.
Sallie trat neben sie. Unten
in der Auffahrt, neben dem Eingang zum Küchenhof, stand ein zerlumpter, magerer
Junge und blickte zu den Fenstern empor. Sallie sah seine spitze Nase und
zotteligen Haare und schauderte. Redzep. Was suchte er hier?
Seine dunklen Augen hatten sie
erspäht. Er hob zögernd seine Hand und winkte. »Komm zurück, meine Königin«,
hörte sie ihn rufen. Hunde bellten heran, er fuhr herum und rannte davon.
»Der Junge ist verrückt«,
lachte Kaltrina. »Komm, Cousine Sarah, lass mich
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