Der neue Frühling
Schwester.«
»Aber du scheinst sonst über alles gut unterrichtet zu sein, was sich hier abspielte.«
»Ihr Geliebter«, wiederholte Thu-Kimnibol, der diese Vorstellung noch immer nicht verdaut hatte. »Also, daran hätte ich nie gedacht. Aber wie plausibel das plötzlich wird! Kein Wunder, daß sie den Verstand verloren hat, als er getötet wurde.« Er schüttelte den Kopf. Die Vorstellung, daß seine Brudertochter sich überhaupt einen Geliebten nehmen könnte, nachdem sie sich die ganze Zeit dermaßen erhaben über derlei gegeben hatte, war befremdlich genug. Daß sie sich dann aber ausgerechnet diesen verträumten Hjjk-Zögling auserwählen mußte… Das sieht ihr wirklich ähnlich, dachte er. Und daß der sich dann auch noch umbringen lassen muß. Wie traurig. »Die Götter waren nicht sehr freundlich zu dem Mädchen«, sagte er. »Es scheint irgendwie nicht gerecht, daß jemand so Junges dermaßen viele Erschütterungen erleben muß. Ich nehme an, sie hat sich nun fest dieser neuen Religion verschrieben?«
»Nicht daß ich wüßte. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, dann müßte das wohl so sein. Aber man berichtet mir, daß sie immer nur in ihrem Zimmer im Nakhaba-Haus sitzt und kaum je ausgeht. Auch ich sehe sie nicht sehr oft, verstehst du?« Taniane lachte bitter. »Begreifst du nun, was hier los ist? Mein eigenes Kind ist mir so fremd geworden, als wäre sie eine Hjjk. Mein Lebenspartner versteckt sich wie üblich im Haus des Wissens und vergräbt sich völlig in Wichtigkeiten, die zehn Millionen Jahre alt sind. Mein Volk blökt mich an, ich solle einen Vertrag unterschreiben, der unser Ende bedeutet. Es wurden Stimmen laut, die sogar meinen Rücktritt fordern, hast du davon gehört, mein Thu-Kimnibol? ‚Du bist schon viel zu lang im Amt’, sagen sie mir, fast direkt ins Gesicht. ‚Es wird Zeit, daß du Platz machst!’… Bei den Göttern, Thu-Kimnibol, ich wünschte, ich dürfte mir wünschen, das zu tun!«
»Taniane – meine liebe arme Taniane…«, begann er mit seiner sanftesten Stimme.
Ihre Augen begannen zu lodern. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Ich brauche dein Mitgefühl nicht! Ich brauche überhaupt kein Mitleid! Von niemandem!« Und weniger scharf setzte sie hinzu: »Ich brauche Unterstützung. Begreifst du nicht, wie isoliert ich hier bin? Wie hilflos? Und erkennst du nicht, was für Belastungen wir ausgesetzt sind? Was hast du mir sonst noch zu bieten, Thu-Kimnibol, außer Mitleid?«
»Ich kann dir einen Krieg bieten«, sagte er.
»Einen – Krieg?«
»Falls das Präsidium die Ratifizierung vornimmt, haben wir bald einen Allianzpakt mit der Yissou-Stadt. Damit wären wir verpflichtet, Salaman zu Hilfe zu kommen, wenn seine Stadt von den Hjjks angegriffen werden sollte; und ich kann dir versichern, es bestehen gar keine Zweifel daran, daß Yissou und die Hjjks in Kürze, und zwar sehr bald, im Kriegszustand sein werden. Und damit dann auch wir. Und danach wird es hier in unserer Stadt Hochverrat sein, etwas Hjjk-Freundliches zu äußern, denn dann sind sie offiziell der Feind. Und damit wäre dann dem ganzen Gequassele ein Ende gemacht, daß wir das Vertragsangebot der Königin annehmen sollen. Und auch dieser verderblichen neuen Religion, die da mitten unter uns frech ihr Haupt erhebt. Und auch allen anderen Sorgen, die du hast, Schwester. Was sagst du dazu? Na? Wie findest du das?«
»Darüber möchte ich gern erst noch etwas mehr wissen«, sagte Taniane. Und Thu-Kimnibol hatte den Eindruck, als wären in einem Augenblick die lastenden Schuppen vieler Jahre von ihr abgefallen.
»Na, da sind wir ja allesamt endlich mal wieder beisammen!« rief Boldirinthe. »Du warst aber wirklich scheußlich lang weg, Simthala Honginda! Wie ergötzlich, daß ihr endlich alle wieder hier unter uns seid!«
Und es war wirklich ein Freudentag für die alte Opferfrau, daß ihr ältester Sohn aus dem Norden heimgekehrt war. Und sogar der endlos herabprasselnde Regen hatte für eine Weile nachgelassen. Zum erstenmal seit Monden war ihre gesamte Familie um sie versammelt – daheim, in dem warmen gemütlichen Nest auf dem Hügel, das sie mit Staip bewohnte: ihre drei Söhne nebst Partnern, ihre Tochter mit ihren Partnern… und die ganze Trabantenschar ihrer Enkelkinder. Boldirinthe ruhte gemütlich in ihren Fettmassen, wohlig eingehüllt in ihrem gewaltigen Leib wie in einem Hügel von Decken, und sie kamen alle nacheinander zu ihr, um sich umarmen zu lassen. Nach der
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