Der neue Frühling
überleben. Die Chroniken müssen in unsrer Familie bleiben.« Er griff nach ihrer Hand und umklammerte sie fest. Seine Finger fühlten sich winzig an. Er wird wieder zum Kind, dachte Nialli. Dann schlug er die Augen kurz noch einmal auf und sagte: »Ich habe nie erwartet, daß ich eine Tochter haben würde, weißt du. Daß ich überhaupt je ein Kind haben würde.«
»Und ich habe dir soviel Kummer gemacht, Vater!«
»Aber gar nicht, Kind. Nur Freude. Glaub mir das.« Seine Hand klammerte sich sogar noch heftiger um die ihre. »Ich habe dich immer geliebt, Nialli. Und ich werde dich immer lieben. Du wirst Taniane meinen liebevollen ergebenen Gruß übermitteln, ja? Meiner Gefährtin in all den vielen Jahren. Meinem Partner. Sie wird traurig sein. Sehr. Aber das soll sie nicht, darf sie nicht. Ich werde an der Seite Dawinnos sitzen – und ihn unendlich viel fragen…« Er schwieg. »Ist mein Bruder da?«
»Ja.«
»Ich dachte es mir. Er soll zu mir kommen.«
Aber Thu-Kimnibol war bereits an Hreshs Lager getreten. Er kniete nieder und streckte die Hand aus, und Hresh berührte sie, ganz sacht, die Fingerspitzen mit seinen Fingerspitzen. »Bruder«, murmelte er. »Ich werde Minbain deine Liebe mitbringen. Aber jetzt mußt du uns alleinlassen. Was jetzt folgen muß, ist nur zwischen Nialli und mir. Sie kann es dir ja hinterher sagen – wenn sie will.«
Thu-Kimnibol nickte. Sanft und liebevoll ließ er seine Hand kurz auf Hreshs Stirn ruhen, als hoffte er, dessen Weisheit und Klugheit würden durch die Berührung auf ihn übergehen. Dann erhob er sich und verließ das Zelt, ohne noch einen Blick zurück zu werfen.
Hresh sagte: »Unter meinem Leibgurt an meiner Lende wirst du einen kleinen Sammetbeutel finden.«
»Vater…«
»Nimm ihn hervor! Öffne ihn!«
Sie ließ den kleinen glattpolierten Stein in ihre Handfläche gleiten und betrachtete ihn erstaunt. Sie hatte ihn nie vorher berührt. Soweit ihr bekannt war, durfte keiner außer Hresh ihn anfassen, und sie hatte ihn auch kaum jemals auch nur sehen dürfen. In gewisser Weise war er dem Amulett ähnlich, das Hresh ihr zuvor gegeben hatte, denn es war ein sehr glattes Stück, und an seiner Kante waren Linienmuster eingegraben, so zart, daß sie das Muster eigentlich gar nicht erkennen konnte. Eine leichte Wärme strahlte von dem Stein aus. Aber das Amulett besaß wenig Masse oder Gewicht. Es wirkte eigentlich eher wie ein nichtsiges, leichtzerbrechliches Ding. Der Barak Dayir war zwar kaum größer, aber Nialli kam es vor, als sei er so schwer wie eine ganze Welt. Es bereitete ihr Unbehagen ihn in der Hand zu halten. Denn die Kraft, die darin gefangen lag, war bestürzend groß.
Hresh flüsterte: »Weißt du, was das ist?«
»Der Barak Dayir, Vater.«
»Ja. Das ist der Barak Dayir. Aber was er ist, das kann nicht einmal ich dir sagen. Der alte Prophet der Beng sagte zu mir, es ist ein Verstärker, was bedeuten würde, er macht Dinge größer, als sie sind. Ich habe dir ja einmal erklärt, daß einst die Menschlichen, die über die Erde herrschten, ihn gemacht haben, noch ehe die Große Welt entstand. Und sie gaben ihn uns, um uns zu schützen, wenn sie nicht mehr hier sein würden. Mehr weiß ich darüber nicht. Und nun mußt du ihn hüten. Und die Kunst, ihn zu benutzen, beherrschen lernen.«
»Doch wie soll ich…?«
»Tvinnre mit mir, Nialli.«
Ihre Augen wurden groß. »Tvinnern – mit dir, Vater?«
»Du mußt es tun. Es kann kein Übel dabei entstehen, nur viel Gutes. Und wenn wir verbunden sind, dann nimm den Barak Dayir und lege ihn auf die Spitze deines Sensor-Organs und fasse und halte ihn fest. Dann wirst du eine Musik hören. Und dann helfe ich dir weiter. Willst du das tun, Nialli?«
»Natürlich will ich.«
»Dann komm nah zu mir.«
Sie schloß ihn in die Arme. Himmel, er wiegt ja fast nichts mehr, dachte sie. Von ihm ist nur noch die Hülle übrig – und der Geist, der darin brennt.
»Deinen Sensor, dicht an meinen…«
»Ja. Ja.«
Es war eine Kommunion, wie Nialli sie nie im Leben zu erfahren geglaubt hätte. Doch kaum hatte ihr Sensor den seinen berührt, verschwanden Furcht und Unsicherheit gänzlich, und sie fühlte mit einer fast unvorstellbaren Freude, wie sein reicher Geist sich einem Wildwasser gleich in den ihren ergoß. Die Freude war so überwältigend, daß sie ganz benommen war, und für einen Augenblick wurde sie ganz davon fortgerissen; dann aber erinnerte sie sich an den Wunderstein, legte behutsam die Spitze ihres
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