Der neue Frühling
Lächeln in seinem lieben vertrauten Spitzkinngesicht. Es ist noch einer bei ihm, ein viel älterer Mann, sein Pelz ist ganz weiß und seine Brust eingesunken. Nialli kennt ihn nicht, aber seine Nähe wirkt freundlich. Und noch tiefer im Dunkel steht noch ein ehrwürdiger Fremder, ein alter Beng, so verhutzelt und dünn und hochgewachsen, daß er aussieht wie ein langer Halm, den jeder Lufthauch davonwehen könnte.
Und nun holt sie den Barak Dayir aus dem Beutel, führt ihn zum Zeichen der Verehrung kurz an die Stirn und ergreift ihn dann fest mit ihrem Sensor.
Die Musik hebt in ihr an. Und trägt sie in die Höhen der Welt hinauf.
Das Steigen ist mühelos, und sie ist zuversichtlich und ohne Furcht vor allem: denn ist nicht Yissou mit ihr, und Dawinno, und überdies auch ihr Vater? Und erst als sie ganz hoch schwebt und die Welt nichts weiter ist als ein kleiner Fleck unter ihr, fühlt sie ein erstes leises Zittern der Besorgnis. Es wäre so leicht, von hier aus immer höher und weiter zu steigen, hinauf in diese Sphäre des Unbekannten, welche die Welt umgibt, hinaus und weiter hinaus mitten zwischen die Kometen und die Monde und in die Sterne… um nie mehr zurückzukehren. Sie braucht nichts weiter zu tun, als die Vertäuung zu zerreißen, die sie an die Erde bindet. Aber das wird sie nicht tun.
Sie ist auf der Suche nach der Königin, der Allergrößten Königin-der-Königinnen selbst, in ihrer Höhle im Nest-der-Nester im kalten kahlen Nordland.
Sie konzentriert ihr Bewußtsein und stößt es vor sich her. Zunächst ein Moment der Ungewißheit, eine seltsam doppelte Zielpeilung. Die Königin scheint an zwei Orten gleichzeitig zu sein, einem fernen und einem sehr nahen. Nialli wird daraus nicht klug. Dann aber versteht sie. Erinnerung steigt in ihr auf an jene entsetzliche Zeit nach Kundalimons Tod und ihrem Fluchtversuch in die Wildnis, als sie sich in ihrem Zimmer verkroch und mit allem kämpfte, was Besitz von ihrem Geist ergriffen hatte. Damals war die Königin in ihr gewesen; und die Königin ist bis zum heutigen Tag in ihr geblieben. Ihre düstere Gegenwart war nie von ihrem Ort in Niallis tiefster Seele gewichen.
Aber die Königin in ihrem Innern ist nur das Schattenbild der echten Königin. Und mit dieser – nicht mit deren Schatten in der eignen Seele hat Nialli es heute zu tun.
»Erkennst du mich?« ruft sie. »Ich bin Nialli Apuilana, Tochter des Hresh.«
Und aus der Tiefe des Nests-der-Nester gibt das gewaltige bewegungslose bleiche Ding, das sich dort verbirgt, ihr Antwort.
»Ich kenne dich. Was willst du von mir?«
»Ich will mit dir verhandeln.«
Spöttisches Gelächter prasselt ihr ins Gesicht wie ein feuriger Hagel. »Verhandeln – das können nur Gleichrangige, du Kleine.« Und dann sendet die Königin einen Kraftsturm aus, der die Luft erschauern läßt und in sich zusammenkrümmen, so daß Nialli durch die Struktur der Atmosphäre hindurch die Wurzeln der Welt sehen kann.
Aber sie wird sich nicht beirren lassen.
»Du besitzt einen Wunderstein«, sagt Nialli. »Und ich habe einen Wunderstein. Also sind wir Gleichrangige.«
»Sind wir das?«
»Kannst du mir Schaden tun?«
»Kannst du mir Schaden tun?« fragt die Königin zurück.
Aus dem Nest schießen blaue Flammenblitze herauf. Sie tanzen und huschen blindwütig her und hin und suchen nach einer verwundbaren Stelle. Nialli wischt sie beiseite, als wären es Mücken.
Die Königin läßt einen Sturm von Geröllbrocken los. Die Königin schickt einen Feuerwall. Die Königin schickt einen stechenden sengenden Nebel.
»Du vergeudest nur Zeit. Glaubst du, ich wäre ein Kind, das man mit sowas erschrecken kann? Was der Wunderstein aussendet, kann der Wunderstein abwehren. Wir könnten uns den ganzen Tag lang weiter so bedrohen, aber nichts wäre damit erreicht.«
»Und was hoffst du zu erreichen?«
»Laß mich dir eine Vision senden«, sagt Nialli.
Und von der Königen erfolgt nach einer Pause widerwillig das Einverständnis.
Von Nialli Apuilana an die Königin geht ein Bild des Umlandes des Nests-der-Nester, wie es ihrer Kenntnis nach sein muß, obwohl sie es nie mit eigenen Augen gesehen hat: hartes karges Flachland, endlose graue Ödnis unter einem erbarmungslosen Himmel. Sie holt das Bild aus Kundalimons Seele, die immer noch in ihr ist.
Er hatte im Nest-der-Nester gelebt. Sie zeigt der Königin den ausgedörrten schrundigen Boden, das unbarmherzige gezähnte Gras, die kleinen tückischen Kreaturen, die unbeirrbar im
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