Der neue Frühling
ist…«
Taniane lachte. Sie las noch einmal den Fetzen Papier in ihrer Hand. DU HOCKST SCHON VIEL ZU LANG DA, hieß es da in krakeligen Buchstaben. HÖCHSTE ZEIT, DASS DU PLATZ MACHST UND DIE RECHTMÄSSIGEN LEUTE HERRSCHEN LÄSST.
Die Worte und die Handschrift waren bengisch. Der Stein war aus dem Nirgendwo vor ihren Füßen gelandet, als sie von der Kapelle der Fürsprache die Koshmar-Allee entlang zurück zu ihren Gemächern im Haus der Regierung entlangging, wie sie dies fast an jedem Tag nach dem Morgengebet zu tun pflegte. Dies war die dritte derartige anonyme Drohung, die sie erhalten hatte – nein, es ist schon die vierte, korrigierte sie sich – in den letzten sechs Wochen. Und das nach beinahe vierzigjähriger Häuptlingschaft.
»Du willst also, daß ich gar nichts dagegen unternehme?« fragte Minguil Komeilt.
»Ich möchte, daß du den Schrieb in der Akte ablegst, die du für derartige Ausbrüche angefertigt hast, und die Sache dann vergißt. Ist das klar? Vergiß es! Es ist absolut bedeutungslos.«
»Aber… Edle…«
»Bedeutungslos«, wiederholte Taniane.
Sie trat in ihre Privatgemächer. Von den dunklen punktierten Wänden starrten die Masken ihrer Amtsvorgänger auf sie herab.
Es waren wilde, lebendige, fremdartige, barbarische Masken. Zeichen der Macht aus einer verflossenen Zeit. Taniane gemahnten sie daran, wie gewaltig die Veränderungen waren, die sich in einer einzigen Lebensspanne seit dem Auszug des VOLKES aus dem Kokon ergeben hatten.
»Es wird Zeit, daß ich Platz mache«, erklärte sie flüsternd den Masken. »Gibt man mir jedenfalls zu verstehen. Steinwürfe in den Straßen. Bengs, denen die Unionsabmachung nichts mehr bedeutet. Nach all dieser Zeit. Unruhige Narren, weiter nichts. Wollen noch immer, daß einer von ihnen regiert. Als hätten sie eine bessere Methode parat. Vielleicht sollte ich ihnen geben, was sie haben wollen, dann wird sich ja zeigen, wie ihnen das dann gefällt.«
Hinter ihrem Arbeitstisch hing die Maske Lirridons, die Koshmar getragen hatte… an jenem längst entschwundenen Tag, an dem der Stamm den Vorstoß in die wiederaufgetaute frostbefreite Welt begann. Es war eine furchteinflößende Maske, grausam, scharfkantig, abstoßend. Sicherlich war sie aus einer alten Stammeserinnerung an das Hjjk-Volk heraus geformt worden, an einen ererbten kollektiven Alptraum, denn die Maske war gelb und schwarz und trug einen schrecklichen vorstoßenden scharfen Schnabel.
Daneben Sismoils Maske, rätselhaft, ausdruckslos, ein flaches unentzifferbares Gesicht mit winzigen Augenschlitzen. Thekmurs ganz schlichte Maske hing daneben. Weiter drüben hing die Maske Niallis, und die war nun wahrlich schrecklich: schwarz und grün mit einem Dutzend langer blutroter starr abstehender Stacheln. Die Nialli-Maske hatte Koshmar getragen, als das Angriffsheer der Behelmten – des Beng-Volkes in Vengiboneeza erschienen war und das VOLK zum Kampf herausgefordert hatte.
Und dort waren Koshmars eigene Masken: die schimmernde graue mit den roten Augenschlitzen, die sie im Leben getragen hatte, und jene edlere, die der Künstler Striinin zu ihrem Gedächtnis nach ihrem Tode gefertigt hatte: die kräftigen Züge in poliertem Schwarzholz geformt. Taniane selbst hatte diese Maske am Tage des Auszugs aus Vengiboneeza getragen, als das VOLK zu seiner zweiten Wanderung aufbrach, die es am Ende an den Ort führte, wo das VOLK sich Dawinno-Stadt erbauen sollte.
Glitzerspuren aus einer verschwundenen Vergangenheit. Erinnerungsfunken, eine blasse Leuchtspur nach rückwärts durch die dämpfenden Wickelschichten der Zeit zu jenen vergessenen Tagen klaustrophobischer Bedrängtheit.
»Soll ich abdanken?« fragte Taniane Koshmars Maske. »Haben sie recht? Hab ich lange genug geherrscht? Und ist es Zeit, daß ich jetzt Platz mache?«
Koshmar war die letzte der Alten Häuptlinge gewesen – hatte über einen Stamm geherrscht, der so klein war, daß der Führer noch jeden namentlich kannte, und in dem Strittigkeiten vom Häuptling entschieden wurden, als wären sie nichts weiter als ein kleiner Zwist unter Freunden.
Wieviel einfacher es doch damals noch war! Und die Leute so ohne Arg und so naiv!
»Also, vielleicht sollte ich es tun«, sagte Taniane. »Wie? Was meinst du dazu? Verlangen die Götter von mir, daß ich jeden mir noch im Leben bleibenden Augenblick für diese Aufgabe opfere? Oder ist es mein Stolz, der mich zwingt, Jahr um Jahr erneut an meinem Amt zu kleben? Oder weil ich nicht
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