Der neue Frühling
unterrichtet. Der Stein fiel weit vor mir zu Boden. Niemand hat versucht, mich zu treffen. Er sollte nur eine Nachricht zu mir bringen. Irgendein bengischer Agitator ist der Überzeugung, ich sollte abdanken. Ich hätte viel zu lang an meinem Amt geklebt, war die Botschaft. Zeit, daß ich Platz mache. Für einen Beng-Häuptling, nehme ich an.«
»Kann wirklich jemand soviel Frechheit besitzen, so etwas vorzubringen?«
»Nialli, die Leute maßen sich an, in allem und jedem mitzureden. Der Vorfall von heute früh ist bedeutungslos. Irgendein Verrückter, weiter nichts. Ein Agitator. Ich kann durchaus noch zwischen einem vereinzelten Drohbrief eines Spinners und dem Ausbruch einer Revolution unterscheiden.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber genug davon. Es gibt andres, worüber wir diskutieren müssen.«
»Du nimmst das so leicht, Mutter.«
»Na, sollte ich mich davon ernstlich beunruhigen lassen? Dann wäre ich eine Närrin.«
»Nein«, sagte Nialli in hitzigem Ton, »ich bin ganz und gar nicht deiner Meinung. Wer kann sagen, was für Kreise das noch ziehen wird, wenn man dem nicht sofort Einhalt gebietet? Du solltest den Kerl aufspüren lassen, der diesen Stein geworfen hat, und ihn an der Stadtmauer aufhängen lassen.«
Verkrampft starrten sie einander an. In Tanianes Augen begann es zu pochen, und sie spürte einen Knoten im Magen. Säfte gurgelten dort wütend und erstarrten. Mit jeder anderen Person, dachte sie, wäre dies hier eine bloße Diskussion; mit Nialli ist es eine Schlacht. Sie bekämpften sich ständig. Warum ist das nur so? Hresh hatte einmal gesagt, sie seien einander so ähnlich, und daß Gleiches Gleiches abstoße. Dann hatte er etwas mit kleinen Metallstäben gemacht, Experimente damit, wie der eine den anderen am einen Ende anzog, während bei umgekehrter Anordnung nichts geschah. Du und Nialli, hatte Hresh gesagt, seid einander zu ähnlich. Darum wirst du sie nie wirklich beeinflussen können. Dein Magnetismus kann bei ihr nicht wirksam werden.
Das mochte wohl so sein. Allerdings vermutete Taniane, daß noch etwas anderes mitspielte – eine Art Verwandlung, die mit Nialli während ihrer Zeit unter den Hjjks stattgefunden hatte und die sie nun so schwierig machte. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden allerdings war unbestreitbar. Sie waren beide aus demselben Holz. Und das war unheimlich und zuweilen beunruhigend. Wenn sie Nialli ansah, war das, als blickte sie in einen Spiegel, der zeitverschobene Bilder reflektierte. Fast hätte man sie für Zwillinge halten können, die auf geheimnisvolle Weise drei und eine halbe Dekade voneinander getrennt geboren wurden. Nialli war ihr einziges Kind, das Kind ihrer mittleren Jahre, das sie wie durch ein Wunder empfangen hatte, nachdem Hresh und sie schon längst die Hoffnung aufgegeben hatten, jemals Kinder zu bekommen; und das Mädchen hatte anscheinend so gar nichts von Hresh mitbekommen – außer vielleicht die Hartnäckigkeit und den unabhängigen Verstand. Sonst jedoch war Nialli wirklich wie eine wiedergeborene Taniane. Diese eleganten Beine, kräftigen Schultern und hohen Brüste, dieser seidig-prachtvolle rotbraune Pelz. Ja, dachte Taniane, sie wirkt königlich. Und ihre Haltung ist die eines Häuptlings. Etwas Strahlendes geht von ihr aus. Das war aber nicht immer ein erfreulicher Gedanke. Manchmal fühlte sich Taniane beim Anblick ihrer Tochter nur allzu schmerzlich an den eigenen alternden Leib erinnert. Dann spürte sie oft, wie sie bereits abwärts, in die Erde zu wachsen begann, dem Ruf der Mächte des Verfalls gehorchend, niedergedrückt von der Masse sich zersetzenden Fleisches und mürbe werdender Knochen – viel zu früh! Sie vernahm das Schwirren von Mottenflügeln, sah die grauen Staubstränge auf den Steinböden. Es gab Tage, da roch für sie die Luft nach Tod.
Nach einem langen Schweigen sagte Taniane: »Müssen wir immer streiten, Nialli? Wenn ich glaubte, daß bei der Sache Anlaß zu Besorgnis gegeben ist, würde ich ja Maßnahmen ergreifen. Aber wenn jemand mich wirklich stürzen wollte, würde er das ja nicht gerade mit Steinwürfen auf offener Straße tun. Das verstehst du doch?«
»Ja.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Ja, ich verstehe.«
»Schön.« Taniane schloß einen Augenblick die Lider und mühte sich, die Erschöpfung und Anspannung loszuwerden. »Und jetzt können wir uns vielleicht der Sache widmen, deretwegen ich dich zu dieser Besprechung habe rufen lassen. Und zwar ist das der angebliche Gesandte,
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