Der neue Frühling
liebreizende sanfte Opferfrau, hatte ihn damals erwischt. Ach, sie war schon seit langem tot. Fast fünfzig Jahre war das nun her. Wäre sie nicht gewesen, auch Hresh wäre seit langem schon tot und ebenfalls längst vergessen… – wenn sie nach ihrem Frühgebet die Luke wieder hinter sich geschlossen hätte, wäre er bis zum Einbruch der Nacht von den Rattenwölfen gefressen, oder von den Hjjks verschleppt worden, oder er wäre einfach in der eisigen Kälte, die damals herrschte, elendig erfroren.
Doch Torlyri hatte ihn am Bein erwischt und ihn zurückgerissen, als er über den Sims in die freie Welt zu klettern versuchte. Und als Häuptling Koshmar ihn für sein Sakrileg zum Tode verurteilt hatte, war Torlyri es gewesen, die sich erfolgreich für ihn eingesetzt hatte.
Wie lang war das her, wie weit, weit lag das zurück. Heute erscheint es ihm wie ein ganz anderes Leben. Oder wie eine ganz andere Welt.
Doch trotz allem gab es Kontinuität. Dieses unstillbare Verlangen, zu sehen, zu tun, zu lernen, war nie von Hresh gewichen. Du willst immer bloß wissen, hatte Taniane gesagt.
Er zuckte die Achseln. Und er ging hinein und legte die beiden Kugeln auf seinen Arbeitstisch. Das Dunkel drohte ihn erneut zu verschlingen.
Der Raum hier war sein Privatgemach. Niemand sonst hatte hier Zutritt. Hier bewahrte er den Barak Dayir auf und die anderen Weissagungsinstrumente, die von seinen Vorgängern auf ihn gekommen waren. Auch seine Manuskripte lagerten hier: Essays über die Vergangenheit. Meditationen über den Sinn des Lebens, über die Bestimmung des VOLKES. Er hatte die Historie von der Größe und dem Niedergang der Rasse der Saphiraugen niedergeschrieben, so gut er sie eben verstand. Er hatte über die Menschlichen geschrieben, die ihm sogar noch größere Rätsel aufgaben. Und er hatte auch Spekulationen über das Wesen der Götter angestellt.
Niemals hatte er einem ändern etwas von diesen Niederschriften zu lesen gegeben. Manchmal überkam ihn die Furcht, sie könnten vielleicht nichts weiter sein als ein Haufen hochgestochenen überkandidelten Unsinns. Und oft hatte er auch schon erwogen, das alles zu verbrennen. Warum auch nicht? Warum nicht diese toten Seiten den Flammen übergeben, so wie Thu-Kimnibol vor ein paar Stunden den Körper Naarintas ins Feuer gelegt hatte?
»Du wirst gar nichts verbrennen«, kam eine Stimme aus dem Schattendunkel. »Du hast nicht das Recht, Erkenntnis zu vernichten.«
Oft kamen ihm in den allerdunkelsten Stunden Visionen – manchmal war es Thaggoran, der alte, längst tote Thaggoran, sein direkter Vorgänger als Chronist; manchmal war es der Weise Alte Mann Noum om Beng vom Volk der Helmträger; manchmal sogar einer der Götter. Hresh bezweifelte solche Visionen niemals. Sie mochten sehr wohl Produkte seiner Einbildung sein, aber er wußte genau, sie sagten stets nur die Wahrheit.
Also sagte er jetzt zu Thaggoran: »Aber ist es wirkliche Erkenntnis? Was, wenn ich hier nur einen Berg von Lügen kompiliert habe?«
»Du weißt doch gar nicht, was Lügen heißt, Junge. Irrtümer können dir unterlaufen, möglich. Aber lügen, das wirst du niemals. Also verschone deine Bücher. Und schreibe weitere. Erhalte das Vergangene für die, die nach dir kommen werden.«
»Das Vergangene! Wozu soll das gut sein? Die Vergangenheit ist doch bloß eine Bürde!«
»Was plapperst du da, Knabe?«
»Es ist sinnlos, nach rückwärts zu schauen. Das Vergangene ist fort und dahin. Kann nicht bewahrt werden. Es entgleitet uns mit jeder Stunde unseres Hierseins. Und fort damit, den Himmlischen sei Dank! Die Zukunft, das ist es, woran wir denken müssen.«
»Nein«, sagt Thaggoran. »Die Vergangenheit ist der Spiegel, in dem wir erkennen können, was kommen wird. Das weißt du doch. Hast es stets gewußt! Was plagt dich denn heute mal wieder, mein Kleiner?«
»Ich war heute auf der Stätte der Toten und habe zugesehen, wie die Gefährtin meines Bruders zu Staub und Asche wurde.«
Thaggoran lacht dazu. »Ganze Welten sind zu Staub und Asche geworden. Neue Welten sind aus ihnen erstanden. Wieso muß ich dich eigentlich an derart einfache Dinge erinnern? Genau das hast du doch gerade heute vor ein paar Stunden den anderen auf dem Totenplatz gesagt.«
»Ja«, sagt Hresh und schämt sich auf einmal. »Ja, das habe ich zu ihnen gesagt.«
»Und ist es nicht der Wille der Götter, daß aus Leben Tod wird und aus dem Toten neues Leben?«
»Ja. Aber…«
»Aber… – nichts! Die Götter beschließen,
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