Der neunte Buddha - Thriller
entscheidende Mann ist jetzt ein weißgardistischer General namens Ungern-Sternberg. Baron Robert von Ungern-Sternberg, um genau zu sein. So viel kann ich Ihnen über ihn sagen: Ungern-Sternberg haben die Bolschewiken im vergangenen Jahr aus Sibirien hinausgeworfen. Er und seine Männer waren im Grunde die letzten russischen Weißgardisten. Sie haben sich in die Mongolei zurückgezogen und unterwegs Verstärkung rekrutiert. Anfang Februar haben sie Urga eingenommen. Ungern hat den Lebenden Buddha vor den Chinesen gerettet und wieder auf den Thron gesetzt. Aber der eigentliche Herrscher ist er.
Samjatin kann also nicht einfach in Urga aufkreuzen, ob nun mit oder ohne Inkarnation. Ungern-Sternberg ist nicht der Mann, der sich auf einen Deal mit den Bolschewiken einlässt. Und die Mongolei ist inzwischen zu einer Gegend geworden, von der sich vernünftige Leute lieber fernhalten. Wenn Samjatin seine fünf Sinne noch beisammenhat, dann wird er sich ein anderes Ziel suchen. Was meinen Sie? Ist er noch bei Trost?«
Christopher lehnte sich über den Tisch.
»Um Gottes willen, das ist kein Schachspiel! Samjatin glaubt, dass er mit diesem Jungen Asien in die Hand bekommenkann. Verstehen Sie? Um Vernunft geht es da nicht. Der Einsatz ist zu hoch.«
»Dann wird er nach Urga gehen. In diesem Fall muss er allerdings überaus vorsichtig sein. Ungern legt alle um, die ihm vor die Flinte kommen, ob nun Russen, Juden oder chinesische Deserteure. Jetzt ziehen sämtliche Reste der Weißen, die es noch in Sibirien gibt, nach Süden, um sich ihm anzuschließen. Kasagrandi ist in Uljassutai, Kasanzew hat Kobdo eingenommen, Kaigorodow soll im Altai aufgetaucht sein, und im Westen hat sich Bakitsch mit Dutow und Annenkow zusammengetan. Es ist das reine Irrenhaus, Christopher. Ungern-Sternberg glaubt, er sei eine Reinkarnation des mongolischen Kriegsgottes. Davon hat er bereits die Hälfte der Bevölkerung des Landes überzeugt. Das bedeutet, er fühlt sich niemandem verantwortlich.«
Winterpole hielt inne und zog ein Zigarettenetui aus seiner Manteltasche. Er öffnete es und bot Christopher eine Zigarette an.
»Nein, danke.«
Winterpole nahm sich selbst eine und zündete sie an.
»Da Ungern in Urga die Kontrolle ausübt, können also weder Samjatin noch Udinski riskieren, sich direkt dorthin zu begeben. Ich denke, Samjatin wird irgendwo außerhalb der Stadt Halt machen, um den Wagen und Udinski zu entsorgen. Dann kann er den Rest der Aktion mit den beiden Jungen allein durchziehen.«
Christopher fühlte, wie er innerlich zu Eis erstarrte. Könnte es dem Russen nicht auch einfallen, William gleich mit zu beseitigen?
»Warum sind Sie eigentlich hier, Winterpole?«
»Um ein Auge auf Sie zu haben natürlich.«
»Ich bin gerührt. Und ich nehme an, zugleich auch auf Samjatin.«
Winterpole stieß eine dünne Rauchwolke aus.
»Klar. Er muss gestoppt werden. Und Sie wollen doch immer noch Ihren Sohn finden, kann ich mir vorstellen. Bis jetzt haben Sie sich gut geschlagen, aber nun müssen wir den entscheidenden Schritt tun. Ich möchte vor Samjatin in Urga sein.«
»Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?«
»Auf die gleiche Weise wie Samjatin. Mit einem Auto. Auf mich wartet eins beim Daotai. Ich habe es in Kalgan von Dänen gekauft. Es ist ein Fiat, extra gebaut für eine Gegend wie diese. Damit kommen wir schneller nach Urga als Udinski mit seinem LKW.«
»Und wenn wir dort sind? Was dann?«
»Wir halten still und warten ab, bis Samjatin den ersten Zug macht. Ungern-Sternberg wird mit uns kooperieren. Samjatin im Austausch für Ihren Sohn. Und für den tibetischen Jungen natürlich. Ungern ist in prekärer Lage. Ein Versprechen britischer Hilfe kann er nicht einfach ausschlagen. Ich schicke ihm morgen über diplomatische Kanäle ein offizielles Telegramm. Darin kündige ich uns an und bitte ihn um seinen Schutz. Damit ist Samjatin ausmanövriert, Christoper. Er läuft geradewegs in eine Falle.«
Christopher schaute Winterpole an, als wäre der sehr weit weg. Sein ganzer Aufzug, seine Zigaretten, sein selbstsicheres Auftreten – all das kam ihm vor wie von einem anderen Stern. Er war ein Intrigant, aber er wusste sehr wenig von der Welt, für die er seine Intrigen spann.
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte Christopher.
47
Getreu seiner Ankündigung schickte Winterpole am nächsten Morgen ein Telegramm ab. Das war ein kompliziertesVerfahren. Zunächst musste es über Landschou nach Peking gesandt und von dort
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