Der neunte Buddha - Thriller
nach Urga weitergeleitet werden, wo es in Ungern-Sternbergs prächtigem neuen Telegrafenamt ankommen sollte. Selbst zu besten Zeiten gab es bei solchen Aktionen stets unvermeidliche Verspätungen, Fehlübermittlungen oder unterbrochene Leitungen. Und dies waren nicht die besten Zeiten – weder in China noch in der Mongolei.
Hätte Winterpole einen Tag abgewartet, dann wäre er informiert worden, dass aufständische Truppen die Telegrafenleitung zwischen Yenan und Peking unterbrochen hatten und seine Depesche daher »auf unbestimmte Zeit« liegenbleiben musste. Aber kaum eine Stunde, nachdem er das Telegramm abgeschickt hatte, tauchte er bei Christopher auf und drängte zum Aufbruch. Wieder saßen sie in dem Raum des Rasthauses zu ebener Erde beisammen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich mit Ihnen mitkommen soll«, sagte Christopher.
»Warum nicht?«
»Weil ich Ihnen nicht vertraue. Samjatin interessiert Sie doch gar nicht. Sie haben selber gesagt, er wird in eine Falle laufen. Sie könnten eigentlich an diesen Ungern-Sternberg telegrafieren und dann in aller Ruhe heimreisen. Aber Sie wollen persönlich in Urga sein. Sie brauchen den Jungen für sich selbst. Sie wollen ihn zu Ihrem Vorteil nutzen.«
Winterpole zückte ein Taschentuch aus weißem Leinen und schnäuzte sich sorgfältig die Nase. Ebenso exakt faltete er es wieder zusammen und steckte es weg.
»Zu unserem Vorteil, Christopher.«
»Nicht zu meinem.«
»Sie wollen doch Ihren Sohn finden, nicht wahr? Sie wollen ihn doch mit nach Hause nehmen.«
Darauf sagte Christopher nichts.
»Natürlich wollen Sie das. Dann kommen Sie mit mirnach Urga. Und das tibetische Mädchen nehmen Sie mit. Sie können sie nicht hier zurücklassen.«
Christopher glaubte zu wissen, was Winterpole im Schilde führte. Mit Chindamanis Hilfe hoffte er den nötigen Einfluss auf Samdup ausüben zu können. Aber in einem hatte er natürlich recht. Christopher würde sich nicht die letzte Chance entgehen lassen, William zu retten.
»Wer ist dieser Ungern-Sternberg?«, fragte Christopher.
Winterpole zuckte die Achseln.
»Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Ich lasse ihn seit über einem Jahr beobachten, aber ich bekomme nur widersprüchliche Berichte. Im Grunde wissen wir so gut wie nichts über ihn.«
Er verstummte und versank in Nachdenken.
»Was wir allerdings wissen …« Wieder stockte er. »… klingt nicht gerade angenehm. Ungern-Sternberg ist, wie die Psychologen sagen, wahrscheinlich ein Psychopath. Er scheint überhaupt nicht zu wissen, was Recht und was Unrecht ist.
Aber …«, erneut unterbrach er sich, »… er ist der Mann des Augenblicks. Der rechte Mann am rechten Ort. Gott weiß, wir wählen unsere Freunde nicht immer gut aus. Aber oft genug haben wir keine Wahl.
Ungern-Sternberg ist die Sorte Mann, die nur in Zeiten wie diesen nach oben kommt. Er ist dafür geschaffen, es liegt ihm im Blut. Und das ist schlecht genug. Seine Familie gehört zu den vier führenden des Baltikums: Das sind die Üxkülls, die Tiesenhausens, die Rosens und die Ungern-Sternbergs.
Die Ungern-Sternbergs stammen von einem alten Rittergeschlecht ab, das sich im 12. Jahrhundert auf den Kreuzzug gegen Russland begab. Sie machten Riga zu ihrer Festung. Sie waren ein brutaler Haufen, der ständig Händel anfing undimmer mit den Taschen voller Beute nach Hause kam. Raufbolde, Piraten, Plünderer und Raubritter. Sie entwickelten Gewalt zu einer Kunst. Und hier haben wir ihren letzten Spross, einen Verrückten, der sich für den mongolischen Kriegsgott hält und entsprechend handelt.«
»Wie alt ist er?«, fragte Christopher.
»Etwa so alt wie Sie, Jahrgang 1887. Er hat in der russischen Kriegsmarine angefangen, nachdem er deren Kadettenschule in St. Petersburg abgeschlossen hatte. Aber das Seemannsleben scheint ihm nicht sehr behagt zu haben, obwohl er Piraten unter seinen Ahnen hatte. Vielleicht wollte ja auch die Marine ihn nicht haben. Jedenfalls nahm er dort seinen Abschied, zog nach Osten und landete schließlich bei den Argun-Kosaken in Transbaikalien. Dort ging es ihm hervorragend, so heißt es. Seine Hauptbeschäftigung sollen die Falknerei, Duelle und die Jagd gewesen sein. Aber am Ende haben ihn auch die Kosaken davongejagt: zu viele Raufereien, zu viel Insubordination.
Für eine Weile ist er unter die Banditen gegangen. Dann brach der Krieg aus, und er sah eine Chance für sich. Er schickte ein Gesuch an den Zaren persönlich und bat darum, wieder in die Armee aufgenommen
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