Der neunte Buddha - Thriller
wenn man sich ungehobelt gab … Dass er mit Höflichkeit gegenüber einem Landesbewohner sofort aufgefallen wäre.
Die Fliege summte immer noch, und das Mädchen sang weiter, während es seiner Hausarbeit nachging. Seit seiner Ankunft aus Kalkutta hatte Christopher zum ersten Mal Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Die Reise war eine einzige Hetzerei gewesen: die überstürzten Vorbereitungen, der eilige, unbeholfene Abschied, die holprigen Flüge von einer Zwischenlandung zur anderen rund um den Globus, die Eisenbahnfahrt von Kalkutta nach Siliguri im glühend heißen Waggon ohne jeden Schlaf und schließlich der Ritt auf dem Pony bis nach Kalimpong. Keine Zeit, um sich bewusst zu werden, was er da eigentlich tat. Nur Landschaften, die an ihm vorbeirasten: Wasser, Sand und stille grüne Täler, in denen die Zeit stillzustehen schien. Dazu die wachsende Erkenntnis dessen, worauf er sich eingelassen hatte. Ein dicker Klumpen Angst in seiner Brust, der immer härter und größer wurde, je näher er seinem Ziel kam.
William war ständig in seinen Gedanken. Er versuchte zu begreifen, wie seine Entführung in Samjatins Pläne passen konnte, was immer diese sein mochten. Außer seiner Reise zum Kailash auf der Suche nach russischen Agenten konnte er keine Verbindung von sich selbst zu diesem Mann erkennen. War William vielleicht nur ein Köder, um Christopher aus Gründen, die für ihn noch im Dunkeln lagen, mit dem Russen zusammenzubringen? Aber das erschien ihm zu weit hergeholt und auch wieder zu plump. Nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Winterpole ihm vielleicht nicht die ganze Geschichte erzählt hatte oder das Gesagte weitgehend frei erfunden war.
Der Junge erschien mit einem Tablett. Darauf eine billige, angeschlagene Teekanne, eine gesprungene Tasse und ein kleines Glas mit whiskyfarbener Flüssigkeit, in der Christopher alles andere als Whisky vermutete. Der Boy setzte das Tablett auf einem niederen Holztisch in der Nähe ab und schenkte in die schmierige Tasse Tee ein. Er war stark, so wie Europäer nach Meinung der Inder ihren Tee mögen. Christopher zuckte die Achseln. Bald würde er tibetischen Tee mit Butter und Salz trinken müssen. Warum also über Darjeelings beste Sorte die Nase rümpfen?
»Es ist ja so still geworden«, sagte er. »Sind die Nepalesen wieder weg?«
»Ja, Sahib. Keine netten Leute. Sehr arm. Kein Platz hier für sie.«
»Aber wo sollen sie hin?«
Der Junge zuckte die Schultern. Was kümmerte ihn, wo die hingingen? Er hatte sie bereits abgehakt wie jeden, der ihm keinen sofortigen Nutzen brachte. Er wandte sich zum Gehen.
»Einen Moment noch«, sagte Christopher. »Kannst du mir sagen, wie ich zu den Knox Homes, dem Waisenhaus, komme?«
Ein Schatten schien über das Gesicht des Jungen zu huschen, aber schon lächelte er wieder. Wenn auch nicht sehr überzeugend.
»Das Waisenhaus, Sahib? Was können Sie im Waisenhaus zu tun haben? Da gibt es doch nichts, Sahib, nur Kinder.«
»Hör mal zu, Abdul. Ich habe dich nach dem Weg gefragt, nicht nach deinem Rat. Also, wie finde ich da hin?«
Wieder dieser merkwürdige Blick. Dann ließ der Junge nachlässig fallen: »Ganz einfach, Sahib. Haben Sie den Kirchturm gesehen?«
Christopher nickte. Das war der markanteste Punkt von ganz Kalimpong.
»Das Waisenhaus ist ein roter Bau neben der Kirche. Ein großes Gebäude mit vielen Fenstern. Es fällt Ihnen sofort auf, Sahib, wenn Sie vor der Kirche stehen. Ist das alles, Sahib?«
Christopher nickte abwesend, und der Junge wandte sich erneut zum Gehen. An der Tür, halb im blassen Sonnenlicht und halb im Schatten, wandte er sich noch einmal um.
»Sind Sie ein Christ, Sahib?«
Christopher fand die Frage merkwürdig. Denn wie für den Durchschnittseuropäer alle Inder entweder Hindus oder Moslems sind, meint auch fast jeder Inder, alle Weißen seien Christen.
»Das weiß ich nicht so genau«, erwiderte Christopher und fragte sich sofort, ob das wohl die richtige Antwort war. »Was meinst du?«
»Keine Ahnung, Sahib. Sie sehen nicht aus wie ein Missionar.«
»Sprichst du von dem Waisenhaus?«
»Ja, Sahib.«
Christopher schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er dann. »Ich bin kein Missionar.«
»Aber Sie wollen zu den Knox Homes.«
»In der Tat. Gehen denn nur Missionare dorthin?«
Jetzt war es an dem Jungen, den Kopf zu schütteln.
»Das glaube ich nicht, Sahib. Da gehen alle möglichen Leute hin. Es ist ein sehr wichtiger Ort. Und zum Waisenhaus gehen wichtige
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