Der neunte Buddha - Thriller
brachte, hatten den Ärzten die Grenzen ihrer Kunst gezeigt. So war in ihrem Herzen etwas zerbrochen, das kein Arzt und keine Gebete heilen konnten.
Als Christin, deren Bestimmung im Leben darin lag, das Reservoir aufzufüllen, aus dem Gott der Herr einst seine Auserwählten bezog, sprach sie voller Verzweiflung von diesem Makel. Die Ursache für dieses Versagen suchte sie in ihren eigenen Sünden. Aber insgeheim war sie froh, dass sie keine Kinder mehr bekam. Denn Kinder hatten ihr nie viel bedeutet und noch weniger der schwülstige Akt, der für ihre Erzeugung notwendig war. Sie hatte nie verstanden, weshalb der Herr sich dafür nicht eine raschere, weniger peinliche und reinlichere Methode ausgedacht hatte.
Jetzt widmete sie sich unter anderem dem Wohlergehen der Waisen von Kalimpong, die sie auf den Seiten Tausender Gemeindezeitschriften berühmt gemacht hatte, und der Beförderung der Pläne ihrer Mission, den unwissenden Heiden von Nordsikkim und Tibet die christliche Lehre zu bringen. Sie war vierundvierzig, flachbrüstig, nervös und von Nierenschmerzen geplagt. Zwei Jahre später sollte sie bei einem Unfall an einem sechzig Meter tiefen Abhang in der Nähe von Kampa-Dzong ums Leben kommen, dem außer ihr zwei tibetische Ponys und ein überladenes Maultier zum Opfer fielen. Jetzt aber stand sie auf der einen Seite und Christopher auf der anderen Seite der Tür.
»Es tut mir leid, wenn ich Ihren Erwartungen nicht entspreche, Mrs. Carpenter«, sagte Christopher, so höflich erkonnte. »Wenn es im Moment nicht passt, dann komme ich ein anderes Mal wieder. Aber eine dringende Angelegenheit führt mich nach Kalimpong, und ich möchte mit meinen Erkundigungen sobald wie möglich beginnen.«
»Erkundigungen? Was wollen Sie denn erkunden, Mr. Wylam? Ich versichere Ihnen, hier gibt es nichts zu erkunden.«
»Ich denke, das zu beurteilen, sollten Sie doch lieber mir überlassen, Mrs. Carpenter. Seien Sie bitte so nett und teilen Sie Ihren Gatten mit, dass ich hier bin.«
Die abweisende Person wandte sich um und bellte in das Dunkel der Vorhalle: »Mädchen! Sag Reverend Carpenter, hier ist ein Mann, der ihn sprechen will. Ein Engländer. Er sagt, sein Name sei Wylam.«
Das Mädchen lief davon, aber Mrs. Carpenter blieb stehen, als fürchte sie, Christopher könnte es auf ihren Türklopfer aus Messing abgesehen haben. Den hatte sie persönlich aus einem Laden in der Princes Street bis nach Indien gebracht. Sie wollte nicht, dass er einem Mann ohne Visitenkarte in die Hände fiel.
In weniger als einer Minute war das Mädchen zurück und flüsterte seiner Herrin etwas ins Ohr. Die trat einen Schritt zurück und bedeutete Christopher ohne ein weiteres Wort, einzutreten. Als er an ihr vorüberging, schwirrten düstere Kindheitsgeschichten über Protestanten durch seinen Kopf. Das Mädchen führte ihn einen schmalen, mit Teppichen ausgelegten und von schwachen Glühlampen erleuchteten Gang entlang zu einer Tür aus dunklem Holz. Er klopfte, und eine dünne Stimme forderte ihn zum Eintreten auf.
8
John Carpenters Arbeitszimmer war wie seine Frau, sein Glaube und seine eigene Person virgo intacta aus Schottland mitten ins Herz des Heidentums verpflanzt worden. Nichts Indisches, Dunkelhäutiges oder ungehörig Fremdes hatte in dieses friedliche Refugium christlicher Männlichkeit vordringen können. An den Wänden trotzten die präparierten, mit Geweihen bewehrten Köpfe von Hirschen aus den schottischen Highlands tapfer den Motten und anderen Insekten des indischen Nordostens, starrten Männer im Kilt und mit struppigen Bärten herausfordernd auf die Heiden und ihre Götter.
Wäre Jesus Christus – dunkelhäutig und ganz weltlich – in persona in diesen Raum getreten, hätte der gute Reverend Carpenter ihn sicher auf der Stelle zu bekehren versucht und ihn Angus oder Duncan getauft. Der Aramäisch sprechende jüdische Lehrer aus Nazareth wäre für John und Moira Carpenter ein Nichts oder noch Schlimmeres gewesen. Sie sahen Jesus als bleichen Galiläer, der blond, blauäugig und bartlos wie durch ein Wunder über Wildblumen und Heidekraut einer schottischen Gebirgslandschaft schritt.
John Carpenter stand da, die Hände auf dem Rücken, und blickte Christopher über eine goldgeränderte Brille hinweg prüfend an. Er war ein Mann in den Fünfzigern, mager, leicht gebeugt, mit schütterem Haar und einem Gebiss, das jeden Zahnarzt zur Verzweiflung gebracht hätte. Er hatte wohl schon bessere Tage gesehen, dachte
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