Der neunte Buddha - Thriller
also, ich wollte Sie töten lassen.« Eine lange Pause trat ein. Der Abt seufzte hörbar. Als er wieder sprach, war seine Stimme verändert – schwächer, älter und noch trauriger als zuvor. »Ich will nicht, dass Ihnen etwas geschieht. Das müssen Sie mir glauben, wenn Sie auch sonst an allem zweifeln, was Sie hier sehen oder hören. Das allein ist die Wahrheit. Verstehen Sie? Glauben Sie mir?«
Sie sind heilig für mich. Ich darf Sie nicht antasten. Der Gedanke kam ihm unvermittelt, wie ein Vogel, der im Käfig saß und plötzlich freigelassen wurde. Er schlug mit grauen Flügeln und war verschwunden. Aber ich kann Ihnen weh tun, dachte Christopher. Er spürte die kalte Messerklinge, die im Stiefel gegen seine Wade drückte.
»Wie kann ich Ihnen glauben?«, sagte er. »Sie haben mir mit Gewalt meinen Sohn weggenommen und dabei einen Mann getötet. Einer Ihrer Mönche hat einen Jungen umgebracht, dessen einziges Vergehen darin bestand, dass er verletzt war. Und ein Mann kommt im Dunkeln mit einem Messer in meinen Raum geschlichen. Wie kann ich da auch nur eines Ihrer Worte glauben?«
Der Abt sah ihn durchdringend an.
»Weil ich die Wahrheit sage.« Wieder wurde es still im Raum. »Als Sie zum ersten Mal mit mir gesprochen haben, erwähnten Sie einen Mann namens Samjatin. Sagen Sie mir jetzt, was Sie über ihn wissen.«
Christopher schwankte. Er wusste so wenig über Samjatin, und das meiste aus Quellen, die für den Abt eines entlegenen tibetischen Klosters bedeutungslos sein sollten. Wo sollte er anfangen?. Vielleicht am besten mit den Grundtatsachen, die Winterpole ihm mitgeteilt hatte.
Als er damit zu Ende war, sagte der Abt zunächst nichts. Bewegungslos saß er auf seinem Thron und schien abzuwägen, was Christopher ihm berichtet hatte. Nach einer Ewigkeit nahm er wieder das Wort.
»Samjatin ist hier in Dorje-la. Wussten Sie das?«
»Ich habe es angenommen.«
»Er hält sich bereits mehrere Monate hier auf. Er ist als Pilger zu uns gekommen. Glauben Sie, dass er hinter dem Anschlag steckt?«
Christopher nickte. Für ihn war das sehr wahrscheinlich.
»Sind Sie Feinde – Sie und dieser Russe?«
»Unsere Staaten sind … nicht direkt im Krieg miteinander. Aber es gibt Rivalitäten. Spannungen.«
»Nicht Ihre Staaten«, sagte der Abt. »Nicht Ihre Völker. Ihre Philosophien. Es ist noch gar nicht lange her, da waren Ihre beiden Länder im Großen Krieg Verbündete gegen die Deutschen. Das stimmt doch?«
Wer immer dieser Abt sein mochte, dachte Christopher bei sich, er hatte dessen Kenntnis der Welt außerhalb dieses Klosters unterschätzt.
»Ja, wir waren Verbündete … Aber dann gab es in Russland eine Revolution. Die Russen töteten ihren König und dessen Familie, Frau und Kinder. Eine Partei, die sich die Bolschewiken nennt, kam zur Macht. Sie haben alle umgebracht, die ihnen im Weg standen – Zehntausende. Ob schuldig oder unschuldig, war gleichgültig.«
»Vielleicht hatten sie ja einen Grund, ihren König zu töten. War er ein gerechter König?«
Das nicht gerade, doch auch kein Tyrann, dachte Christopher. Nur willenlos und unfähig. Die Galionsfigur eines autokratischen Systems, das er nicht ändern konnte.
»Ich denke, er wollte gerecht sein und von seinem Volk geliebt werden«, sagte Christopher dann.
»Das ist nicht genug«, antwortete der Abt. »Ein Mann kann den Wunsch haben, ins Nirwana einzugehen, aber zunächst muss er handeln. Acht Dinge sind notwendig, um Befreiung von Schmerzen zu erlangen. Das Wichtigste davon ist das richtige Handeln. Wenn ein gerechter Mann nicht handelt, dann tun es die Ungerechten an seiner Stelle.«
»Das mag richtig sein, aber Samjatin muss gestoppt werden«, sagte Christopher. »Die Bolschewiken wollen Asien unter ihre Kontrolle bringen. Sie werden ihre Grenzen überschreiten und ein Nachbarland nach dem anderen erobern. Und sie werden noch weiter gehen. Niemand ist vor ihnen sicher. Nicht einmal Sie, nicht einmal dieses Kloster. Mit diesem Ziel ist Samjatin nach Tibet gekommen. Wenn Ihnen Ihre Freiheit lieb ist, dann helfen Sie mir, seine Absichten zu durchkreuzen.«
Der alte Mann seufzte hörbar und beugte sich nach vorn. Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Und Sie«, sagte er dann, »was werden Sie tun, wenn Sie ihn gestoppt haben?«
Christopher war unsicher. Das hing davon ab, was Samjatin vorhatte. Würde er bleiben … und Samjatins Tätigkeit zum Vorteil Englands nutzen müssen? Oder würde es ausreichen, Samjatin
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