Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)
Umdenken. Unsere Wertevorstellung darf nicht wirtschaftlichen Interessen geopfert werden.
Sicher hängen Wertevorstellungen auch mit der Erziehung zusammen. Wenn ich an meine eigene Kindheit zurückdenke, wird mir bewusst, dass ich von meinen Eltern mit klaren Wertevorstellungen erzogen wurde. Toleranz und Respekt waren ihnen ganz wichtig, und ich bin dankbar, dass sie mich gelehrt haben, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Vielleicht habe ich dadurch ein anderes Empfinden – vielleicht auch, weil ich Armut in meiner Kindheit erlebt habe. Heute lebe ich unter anderen Umständen. Es geht mir gut, meine Verhältnisse haben sich verändert. Aber die Vorstellungen meiner Eltern – denen bin ich treu geblieben, und dies sind die Wertevorstellungen, die ich versuche, meinem Sohn weiterzugeben.
Vor einiger Zeit hat Yaris ein Katzenbaby gefunden. Achtlos ausgesetzt. Das passiert auf Mallorca leider viel zu oft. Der Umgang mit Lebewesen ist vielen gleichgültig. Das Tier, nackt und hilflos, lag am Straßenrand. Der Effekt seines guten Herzens hat Tania, meiner Frau, zwei Monate schlaflose Nächte verschafft. Sie ist nachts aufgestanden und hat die Katze mit einer Pipette und später mit einer Flasche aufgepäppelt. Ich bin Yaris dafür sehr dankbar, ich bin stolz auf ihn, denn er formt sein soziales Empfinden. Die Katze ist ein Lebewesen, davor hat Yaris Respekt, und er wollte nicht, dass sie stirbt. Er wusste, dass die Katze Hilfe braucht. Diese Hilfe bekam sie, und plötzlich entstand Zuneigung. Die Katze hat keine Angst vor ihm, er hat sich mit ihr vertraut gemacht, hat Verantwortung übernommen. Vor dieser Katze gab es übrigens einen Hund, um den Yaris sich gekümmert hat. Nach dieser Katze kommt vielleicht ein Mensch … Wichtig ist, dass das Bewusstsein für solche Situationen geschärft wird, und damit müssen wir im Kindesalter anfangen – das Bewusstsein der Menschlichkeit, das Prinzip der Nächstenliebe. Daher ist es für Yaris heute eine Selbstverständlichkeit, dass er, wenn wir an der Stiftung vorbeifahren und er die Kinder sieht, die bei uns zu Gast sind, ihnen Hallo sagt und sich mit ihnen unterhält. Er kennt inzwischen den Grund, weshalb sie bei uns sind, und es schärft seinen Blick für die Defizite, die diese Kinder aufgrund ihrer Traumatisierungen haben. Es macht ihm aber vielleicht auch deutlich, in welch privilegierter Lage er sich selbst befindet und dass man das alles nicht in Anspruch nehmen darf, ohne zu teilen.
Gut und Böse, dafür hat man ein Gefühl, ohne es eingetrichtert bekommen zu haben. Es ist meine Hoffnung – nicht nur für Yaris, sondern auch für andere Kinder –, dass sich an dieser Ursprünglichkeit nichts verändert und dass Kinder, die, egal wo sie geboren werden, mit einem gewissen Gerechtigkeitssinn auf die Welt kommen, diesen auch behalten können. Ich gehe davon aus, dass Yaris im Laufe der Zeit in seiner Haltung bestärkt wird, und diese Zuversicht habe ich nicht nur deshalb, weil Yaris mein Sohn ist.
Werte … was ist uns ein Mensch wert? Ich kann verstehen, dass Menschen, die verletzt werden oder deren Wert man nicht respektiert, entsprechend reagieren. Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck brachte es auf den Punkt: »Kinder, die man nicht liebt, werden Erwachsene, die nicht lieben.« Wir dürfen bei allen Entscheidungen niemals den Wert eines Menschen vergessen. Jeder Mensch ist wertvoll, auch wenn er Fehler gemacht hat. Ein jeder wird in die Mitte der Gesellschaft hineingeboren und erst später werden einige durch die Gesellschaft an den Rand gedrängt.
Das gilt vor allem für Familien. Gerade die Familie ist der erste und womöglich auch der wichtigste Schutzraum, den ein Mensch erfährt. Der Neuankömmling wird in den Kreis der Familie hineingeboren. Allerdings sind die Rahmenbedingungen für Menschen inzwischen so, dass sie tatsächlich kaum noch Zeit haben, sich der Familie zu widmen. Der wirtschaftliche Druck ist größer denn je. Kinder werden allzu oft vor dem Fernseher oder dem Computer »geparkt«. Ich erinnere mich gern an die Zeit, die ich mit meiner Mutter verbringen konnte. Ich möchte wirklich nicht in das Früher-war-alles-besser-Schema verfallen, aber in gewisser Weise, der heutigen Zeit angepasst, halte ich eine Renaissance der Werte für wichtig. Ich spüre bei den Begegnungen mit Kindergruppen, die uns in unseren Einrichtungen besuchen, den deutlichen Wunsch nach Geborgenheit. Sie möchten Zeit mit uns
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