Der Nobelpreis
schwer, still zu sitzen und nicht zum Beispiel mit der Faust auf die Wand einzudreschen. Ich holte tief Luft und bemühte mich, wie ein Psychiater zu klingen, als ich sagte: »Hans-Olof? Bitte sag mir jetzt, was los ist. Hast du sie gefunden?«
Pause.
»Nein«, sagte er.
Etwas in mir hatte gehofft, merkte ich jetzt, hatte gegen alle Vernunft Hoffnung geschöpft und war jetzt am Boden zerstört.
»Wo bist du?«, fragte ich matt.
»Aber sie war da«, sagte er.
»Was?«
»In der Telefonzelle. Sie ist da gewesen.« Er klang schrecklich. Er schien dicht davor zu stehen, die Kontrolle zu verlieren.
»Hans-Olof, wo bist du? In Södertälje?«
Ein Moment der Stille, der mich schon glauben ließ, die Verbindung sei unterbrochen, dann sagte er: »Ja.«
Er klang nicht gut. Vielleicht musste ich mir nicht nur um Kristina Sorgen machen, sondern auch um ihren Vater. »Ich komme mit der Lokalbana « , sagte ich. Es war ein Risiko und ein Verstoß gegen meine eigenen Sicherheitsvorschriften, aber es musste sein. »Kannst du zum Bahnhof kommen?«
Seine Antwort kam von ganz weit weg, und ich hätte nicht sagen können, ob es ein technisches Phänomen war. »Ja. Bahnhof. Alles klar.«
Die Bahn fuhr umso langsamer, je näher sie Södertälje kam, zumindest erschien es mir so. Ich stand längst an der Tür und spähte durch das kalte Fenster hinaus, versuchte in der von Straßenlaternen durchstanzten Dunkelheit etwas zu erkennen. Manches kam mir bekannt vor, vieles auch nicht. Es war alles so lange her. Ich war diese Strecke oft gefahren, damals, als Inga und ich hier gewohnt hatten. Oft hatte ich richtig viel Geld in der Brusttasche meines Parkas gehabt, und dann hatte ich es die letzten Kilometer auch nicht mehr ausgehalten auf dem Sitz. Meistens war ich den ganzen Tag in Stockholm unterwegs gewesen, war in allerlei Wohnungen eingebrochen – etwas, das man tagsüber viel unverdächtiger tun kann als bei Nacht – und hatte die Beute bei einem Hehler verkauft. Eine primitive Methode, zu Geld zu kommen, aber damals wusste ich es eben nicht besser. Ich hatte mich mit silbernem Besteck, gefährlich großen Gemälden und banalen Kofferradios abgeschleppt, nicht ahnend, dass ich, wenn ich statt des Schmucks der Frau den Terminkalender des Mannes mitgenommen und an den richtigen Interessenten verhökert hätte, leicht das Hundert-oder Tausendfache hätte erzielen können.
Ich war jung gewesen und entschlossen, mein Glück zu machen. Unser Glück. Heute wusste ich, dass damals die beste Zeit meines Lebens gewesen war. Ich wollte, ich hätte das damals auch gewusst.
Die Vorstellung, Kristina, meine Nichte und letzte lebende Verwandte, könnte von allen Orten Schwedens ausgerechnet an diesem gefangen gehalten werden, beschmutzte meine Erinnerungen regelrecht. Allein dafür, schwor ich mir, würde jemand büßen.
Endlich: Der Zug rollte in den Bahnhof ein. Ich war der Erste, der ausstieg, und befremdet, als ich mich umsah. Ich war lange nicht mehr hier gewesen, klar, aber dass sich so viel verändert hatte, dass ich mich auf den ersten Blick ganz fremd fühlte, hatte ich nicht erwartet. Das Endgleis war von einem großen, gekiesten Platz umgeben, frisch gepflanzte Bäume kämpften gegen die beißende Kälte, und vom alten Bahnhof war nur noch das kleine weiße Stationshäuschen übrig, wo es wahrscheinlich immer noch Karten zu kaufen gab und ein paar Sitzbänke für Wartende. Ich hob den Blick und sah hinüber auf die gegenüberliegende Talseite, von der man nichts mehr sah außer Straßenlaternen. Dort drüben irgendwo war es gewesen, unser Haus. So hatten wir es genannt, obwohl wir nur die kleine Dachwohnung darin gehabt hatten, drei Zimmer, Küche und Bad. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass Inga nach ihrer Heirat nur noch ein einziges Mal dorthin zurückgekommen war.
Der graue Volvo stand eigenartig still am Straßenrand unweit des Stationshäuschens. Hans-Olof sah kaum auf, als ich einstieg. Er saß hinter dem Steuer und hatte etwas in der Hand, etwas aus Stoff.
Ein Stirnband, erkannte ich, als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Zwei stilisierte Elche waren darauf gestickt.
»Kristinas?«, fragte ich.
Hans-Olof nickte. »Lag in der Telefonzelle.«
»Und Kristina?«
Er rang mit den Tränen, wollte den Kampf mit ihnen um alles in der Welt nicht verlieren. »Weg. Nicht da. Ich bin zu spät gekommen.«
Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. Das fehlte noch, dass er jetzt durchdrehte.
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