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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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wussten sie es von Kristina, fiel mir ein.
    »Ach so«, meinte Hans-Olof unbehaglich. »Du, es ist viel Verkehr. Ich glaube, ich muss aufhören zu telefonieren.«
    »Ja, bau jetzt bloß keinen Unfall. Fahr hin, und schnapp sie dir.« Mir fiel noch etwas ein. »Sag mal, hast du ihr deine Mobilnummer gegeben?«
    Hans-Olof kam ins Stottern. »Ähm … nein. Daran habe ich nicht gedacht.«
    »Gut«, sagte ich. »Gut, dass du nicht daran gedacht hast.«
    Er schien zu kapieren, wie ich das meinte. Ich trennte die Verbindung.
    Jetzt rächte es sich, dass ich mir nicht schon längst einen Wagen besorgt hatte. Ich sprang in meine Schuhe. Ein Taxi, überlegte ich, während ich die Schnürsenkel band. Was konnte das kosten? Södertälje, das waren gut zwanzig Kilometer. Fünfhundert Kronen, wenn nicht mehr. Bestimmt waren auch die Taxipreise nicht mehr dieselben wie vor meiner Zeit im Knast. Ich stopfte die Unterlagen hastig zurück in ihr Versteck und holte stattdessen eine Hand voll Geld heraus, an die zweitausend Kronen in Hundertern und Fünfhundertern.
    Wie der Blitz war ich draußen auf der Straße. Es war längst dunkel. Ein eiskalter Wind trieb ein paar verirrte Schneeflocken durch die Straßenschluchten, die in den Lichtkegeln der vorbeidrängenden Autos aufleuchteten wie tanzende Insekten. Mir schauderte bei dem Gedanken an Kristina, die womöglich jetzt gerade irgendwo in Kleidung herumstand, die für die Verhältnisse von Mitte Oktober gedacht war, und auf ihren Vater wartete. Dann kam mir wieder einmal zu Bewusstsein, dass ich sie mir als achtjähriges Mädchen mit Pferdeschwanz vorstellte. Aber sie war inzwischen vierzehn Jahre alt; vielleicht würde ihr einfallen, irgendwo Schutz zu suchen.
    Kein Taxi, nirgends. Ein Strom von metallenen Leibern, röhrend, stinkend, aber kein Taxi unter ihnen. Ich rannte die Rosenlundsgatan entlang, hielt Ausschau, fluchte vor mich hin. Da war ein Taxistand, aber leer. Zwei Männer mit Aktenkoffern warteten mit hochgeschlagenen Mantelkragen.
    Das konnte ich vergessen. Inzwischen waren es nur noch ein paar Schritte bis zur Södra -Station. So, wie der Verkehr hier vorwärts kam, war ich selbst zu Fuß schneller aus Stockholm draußen – und mit der Lokalbana allemal.
    Während ich einen Fahrschein löste, hörte ich unten schon das metallische Schleifen des einfahrenden Zuges. Ich stürzte die Treppen hinab und sprang in letzter Sekunde in den letzten Wagen, dessen hinterer Teil sogar leer war. Das allerdings lag an einem einsam schnarchenden Penner, der sich derart eingenässt hatte, dass unter ihm eine Lache von Urin schwappte, deren bestialischem Geruch man nicht entging, sobald sich die Türen geschlossen und der gut geheizte Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Ich zog es vor, mich ebenfalls in die Wagen weiter vorn zu drängeln, die mit streitenden Paaren, aggressiven Jugendlichen und keifenden Alten überfüllt waren.
    Sobald der Zug aus dem Tunnelsystem ins Freie kam, leerte er sich bei jedem der nervtötend vielen Halte, die er einlegte, ein wenig mehr. Irgendwann fand ich einen Sitzplatz am Fenster, konnte in die Dunkelheit hinausstarren und zusehen, wie das aus dem vorbeifahrenden Zug fallende Licht über schneebedeckte Hänge und dürre Kiefern huschte. Alle paar Minuten vergewisserte ich mich, dass mein Telefon eingeschaltet war, dass es Empfang hatte, dass keine Nachricht vorlag, die Hans-Olof auf die Mailbox gesprochen hatte, während ich durch einen Tunnel gefahren war. Ich würde ihn nicht anrufen, jedenfalls jetzt nicht. Vielleicht steckte er noch im Stau. Wenn nicht, war er beschäftigt. Nein, jetzt nicht. Obwohl sie schon praktisch waren, diese Dinger, für Gelegenheiten wie diese. Wenn man versuchte, seine Nichte aus den Klauen von Entführern zu befreien, die mit der Polizei im Bunde stehen.
    Kurz vor Rönninge klingelte es in meiner Tasche, und ich hatte das Gerät schneller am Ohr, als ein Revolverheld je seine Waffe gezogen hat. »Ja?«
    Es war, natürlich, Hans-Olof. »Hallo«, sagte er mit Grabesstimme.
    »Was ist?«
    »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
    »Wieso? Was ist los?«
    Es war ein eigenartiges Beben in seiner Stimme. »Ich halte es nicht mehr aus. Ich ertrage das nicht. Gunnar, bitte …«
    Während er das sagte, stieg ein grässliches Bild vor meinem inneren Auge auf, ein Zeitungsfoto, das ein kleines Mädchen in einer Blutlache zeigte, grässlich zugerichtet. Sie ist kein kleines Mädchen mehr!, mahnte ich mich, aber es fiel mir

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