Der Nobelpreis
gemacht, um seine Gedanken zu ordnen, in dem Bemühen, nichts zu vergessen und die Prioritäten seiner Entscheidungen richtig zu setzen. Dass ich als Außenstehender kaum verstand, worum es ging, machte den Anblick nur noch faszinierender.
P, F, RK und so weiter waren Abkürzungen für Namen, klar. Ich könnte ein Handbuch über das Entziffern solcher privater Notizen schreiben, und einer der ersten Lehrsätze wäre, dass Personennamen fast immer mit Großbuchstaben abgekürzt werden.
JAS hieß Juveniles Aggressions-Syndrom. Offenbar hatte Reto Hungerbühl, Leiter der schwedischen Niederlassung von Rütlipharm, diesbezüglich Testreihen laufen, mit denen er unzufrieden war. Und offenbar durfte die Konzernzentrale nichts davon erfahren. Er hatte Geheimnisse vor seinem obersten Chef, das stand mal fest.
Und SHC, dämmerte mir, konnte fast nichts anderes sein als die Initialien der Nobelpreisträgerin Sofía Hernández Cruz.
Sie störte ihn. Ich hätte nur gern den Schimmer einer Ahnung gehabt, wobei.
Inzwischen war vier Uhr vorbei. Ich versuchte es noch einmal bei Lena.
»Novitzky?«, meldete sich ihre Stimme.
Ich hätte beinahe aufgelegt, doch dann sagte ich: »Hallo, Lena. Ich bin’s, Gunnar.«
Ich hörte sie Atem holen. »Gunnar?« Es klang, als zittere sie.
»Gunnar, na so was … Von wo rufst du an?«
»Ich bin wieder draußen. Seit vorgestern.«
»Schön. Schön für dich. Ich … Du weißt Bescheid, oder? Dass ich geheiratet habe und so weiter?«
»Es war nicht zu überhören«, sagte ich und spürte etwas in meiner Stimme schwingen, das hoffentlich nicht zu hören war. »Sag mal … Können wir uns trotzdem mal treffen? Kurz?«
»Treffen?«, wiederholte sie. »Ich weiß nicht. Das kommt ein bisschen plötzlich …« Im Hintergrund war ein Krachen und Knallen zu hören, dann quengeliges Kindergeschrei. »Sven?«, rief Lena nach hinten. »Was machst du da?« Sie gab ein Ächzen von sich, aus dem Erschöpfung sprach. »Einen Moment, ja?«
Ich ließ mich hintenüber auf die Matratze fallen und hörte zu, wie sie im Hintergrund auf ihren brüllenden Sohn einredete. Was sollte das werden? Sie würde nicht mit mir ins Bett gehen. Nicht Lena. Sie hatte die Familie, die sie immer gewollt hatte; um nichts in der Welt würde sie die riskieren.
Eine Tür schlug zu und dämpfte das Kindergeschrei. Schritte, dann war sie wieder am Apparat. »Gunnar? Bist du noch dran?«
»Lass mich raten. Dein Mann wäre dagegen.«
»Ja. Nein. Doch, natürlich«, seufzte sie. »Aber es geht grade sowieso nicht. Sven ist krank, und ich muss mit ihm das Haus hüten. Sonst hätte ich gesagt, wir könnten uns einfach tagsüber irgendwo treffen, in einem Café oder so … Weißt du, normalerweise ist er pflegeleicht. Wenn ich mich mit einer Freundin treffe und ihn dabeihabe, braucht er bloß ein Bilderbuch und einen Schnuller und ist das liebste Kind von der Welt.«
Ich verzog das Gesicht. Was war ich doch für ein Idiot! Sie dachte überhaupt nicht mehr in den Bahnen, die mir vorschwebten. Und die Zeit, mit verflossenen Liebschaften und ihren mehr oder weniger pflegeleichten Kleinkindern in Cafes herumzusitzen, hatte ich nun wahrhaftig nicht.
»Schon gut« sagte ich, nur noch bemüht, das Gespräch zu Ende zu bringen. »War bloß so ein blöder Gedanke von mir. Was einem halt so einfällt, wenn man zwei Tage aus dem Knast draußen ist und sich ein bisschen verloren fühlt.«
»Mmh, ja, verstehe«, murmelte sie, schien dabei aber mit den Gedanken woanders zu sein. »Gunnar, mir fällt ein, dass ich ja noch deine Zeitschriften habe. Soll ich dir die vielleicht jetzt schicken? Das könnte ich machen.«
Ich stutzte. »Was für Zeitschriften?«
»Na, deine ganzen Abonnements«, erwiderte Lena verwundert, und in dem Moment fiel es mir auch wieder ein, wie eine Erinnerung an etwas, das hundert Jahre her war.
Ich hatte Lena, als meine Inhaftierung abzusehen gewesen war, nicht nur wegen des Schließfachs zur Bank geschleppt, sondern sie auch gebeten, die Abonnements meiner Fachzeitschriften für Sicherheits-und Überwachungstechnik weiterzuführen. Es handelte sich um ein deutsches und zwei amerikanische Magazine, an die schwer heranzukommen ist und die keine Bibliothek in Schweden führt, abgesehen vielleicht von der Bücherei der Kriminalpolizei. Ältere Ausgaben waren praktisch nicht mehr zu kriegen, aber gerade auf die kam es oft an. Damals hatte ich mir überlegt, dass ich mit Hilfe dieser Zeitschriften wieder rasch zum
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