Der Nobelpreis
nachdenklich. »Wissen Sie«, begann er in einem seltsam beiläufigen Erzählton, »es entgeht mir nicht, was so geredet wird. Es ist mir auch nicht entgangen, dass die meisten abfällig über Sofía Hernández Cruz sprechen. Weil sie eine Frau ist. Eine Spanierin zumal – unvorstellbar, dass so jemand bedeutende Arbeit auf dem Gebiet der Neurophysiologie leisten kann, nicht wahr? Ganz zu schweigen von dieser unsäglichen Moraldiskussion. So sind sie, die Vorurteile unserer geschätzten Kollegen.« Er blickte gedankenverloren vor sich hin, nickte ein paar Mal sinnend. »Nun ja, vielleicht wären meine Vorurteile kein Haar besser. Aber ich habe Sofía Hernández Cruz einmal kennen gelernt. Das war, als sie noch an der Universität von Alicante arbeitete, zwei Jahre, bevor der ganze Zirkus in der Presse losging und sie nach Basel wechselte. Lange Zeit her. Sie forschte damals über die Funktionsweise von Narkotika, und obwohl das aus heutiger Sicht eine völlig konsequente Etappe ihrer Arbeit war, erinnere ich mich, dass ich es ausgesprochen paradox fand. Denn sie ist eine der hellwachsten Personen, die ich je getroffen habe. Und eine der klügsten obendrein.«
Hans-Olof rutschte unbehaglich auf die vorderste Kante des Stuhls. »Ihre Qualifikation habe ich nie bezweifelt. Wie gesagt, ich wollte ohnehin für sie stimmen.«
»Würden Sie mir zustimmen, dass Professor Hernández Cruz unredlicher Einflussnahme überhaupt nicht bedarf?«
»Absolut.«
»Nicht wahr? Sie ist dieses Jahr zum ersten Mal nominiert. Im Schnitt wird ein Kandidat achtmal nominiert, ehe er den Preis bekommt. Und sie ist noch jung mit – wie alt? Fünfundfünfzig Jahren? Sechsundfünfzig? Sie wird den Preis vielleicht diesmal nicht bekommen, aber irgendwann bestimmt.« Thunell beugte sich leicht vor. »Zudem: Betrachten Sie das Thema ihrer Arbeit. Sie hat unser Verständnis für das Zusammenspiel von Hormonen und Nervensystem enorm weitergebracht. Sie hat gezeigt, wie Geist und Körper miteinander verschaltet sind. Das, was die Zeitungen so blumig das ›Experiment von Alicante‹ nennen, wird in zehn Jahren fraglos in den Lehrbüchern der Oberstufen stehen. Aber – es gibt keinerlei wirtschaftlichen Nutzen, den irgendjemand aus einer Preisvergabe an sie ableiten könnte. Kein Medikament, keine neue Behandlungsform, nichts.«
Hans-Olof nickte. »Richtig.«
Thunell sah ihn an und hob die buschigen weißen Augenbrauen. »Also frage ich Sie: Warum sollte jemand so eine törichte Aktion unternehmen?«
Hans-Olof erschrak über diese Wendung des Gesprächs, denn es schien darauf hinauszulaufen, dass Ingmar Thunell ihm seine Geschichte nicht glaubte. Beweisen konnte er sie in der Tat nicht. Die Erinnerung daran kam ihm, wie er später einräumen sollte, sogar selber unwirklich vor. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Ich denke nur, dass wir darauf reagieren müssen. Notfalls, indem wir ein Exempel statuieren.«
»Indem wir Sofía Hernández Cruz disqualifizieren?«
»Zum Beispiel. So Leid es mir tut.«
Ingmar Thunell verschränkte die Arme und musterte ihn mit spöttischem Blick. »Ist Ihnen noch nicht der Gedanke gekommen, dass es genau das sein könnte, was der Unbekannte – oder seine Hintermänner, falls es die gibt – bezwecken will?«
So hatte Hans-Olof es in der Tat noch nicht betrachtet. Dabei lag es auf der Hand. Und wenn man in dieser Richtung anfing zu denken, eröffneten sich Perspektiven, die einem buchstäblich den Atem verschlugen. Perspektiven, die eher Abgründe waren.
Er musste an die so genannte Kortlist denken, die Liste der Kandidaten, die das Komitee in die engste Wahl gezogen hatte und der Nobelversammlung vor der Abstimmung vorstellen würde. Wie üblich standen auch dieses Jahr fünf Namen darauf. Die streng vertraulich zu behandelnden Dossiers dazu waren inzwischen an alle Stimmberechtigten ausgegeben worden. Das hieß nicht, dass es nicht vorkommen konnte, dass jemand in der Versammlung aufstand und sich für einen anderen Nominierten einsetzte – tatsächlich war das schon häufig geschehen –, aber in der Regel war die Empfehlung des Komitees eine Vorentscheidung.
Der erste Name auf der Kortlist und damit der Favorit dieses Jahres war der eines Biochemikers, der bedeutende Entdeckungen auf dem Gebiet der kleinen RNA-Moleküle gemacht hatte. Sein Name war Mario Gallo.
Ein Italiener.
Das Flugzeugunglück. Mailand. Das war auch Italien. Gab es am Ende einen Zusammenhang? Hans-Olof spürte ein beklemmendes
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