Der Nobelpreis
das Karolinska-Gelände einbog, linker Hand vor dem Nobelforum schon die weißen Lieferwagen des Partyservice stehen, der die Pressekonferenz anlässlich der Bekanntgabe der Preisentscheidung ausrichtete. Junge Männer luden Bistro-Tische aus, Frauen in hellen Overalls trugen Körbe mit Tischwäsche ins Innere der Empfangshalle oder waren damit beschäftigt, deren Glasfront auf Hochglanz zu polieren. Wie jedes Jahr war auch dieses Mal die Spannung wieder mit Händen zu greifen.
Gut vorstellbar, dass die Journalisten aus aller Welt, die sich hier morgen Mittag gegenseitig die besten Plätze streitig machen würden, diesmal mehr zu berichten haben würden als nur den Namen des Preisträgers.
Er stellte seinen Wagen auf einem der weiter hinten gelegenen Parkplätze entlang des Nobelwegs ab und verbot sich, auf dem Weg zu seinem Büro nach einem Mann mit weit auseinander stehenden Augen und Lederkoffer Ausschau zu halten. Nicht an ihn zu denken gelang ihm freilich erst, nachdem ihn seine tägliche Arbeit, wie meistens, völlig vereinnahmt hatte. Sein Fachgebiet waren die Übertragungsmechanismen in jenen neuronalen Systemen des Rückenmarks und des Gehirns, die Schmerz und die Reaktionen auf Stress regulierten. Mit der Laborarbeit hatte er natürlich nichts zu tun, die wurde von drei graduierten Studenten geleistet, die später als Mitautoren genannt werden würden. Einmal pro Woche kamen sie in sein Büro, um zu berichten, und dabei tauchten immer wieder faszinierende neue Zusammenhänge auf. In der heutigen Besprechung ging es um Hinweise, dass bestimmte schwache Stressstimuli zu Gewebsveränderungen und einer veränderten Ausschüttung von Cholezystokinin in der periaquaeductalen Region des Gehirns zu führen schienen, von der angenommen wurde, dass sie eine wichtige Komponente des Schmerzempfindens war. Das mochte ein Ansatz für die Entwicklung neuer Analgetika sein und war es wert, weiter verfolgt zu werden. Sie diskutierten mehrere Hypothesen und beschlossen schließlich, die Neuropeptidlevel in gleicher Weise zu untersuchen. Falls das signifikante Werte ergab, würde man weitersehen.
Nachdem die Studenten wieder weg waren, widmete sich Hans-Olof einem Artikel über aktuelle Entwicklungen in der Pharmakologie, den er dem Medicinsk Vetenskap versprochen hatte, dem alle drei Monate erscheinenden allgemeinwissenschaftlichen Magazin des Karolinska-Instituts. Er galt in der Redaktion als einer der wenigen Professoren, die verständlich und eingängig formulieren konnten, daher kamen solche Bitten häufig. Gerade als er über einigen Absätzen brütete, in denen noch zu viele Fachausdrücke vorkamen, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab, ohne aufzusehen. »Andersson.«
Keine Antwort. Nur ein fahles, fernes Rauschen.
»Hallo?« Er spürte den Impuls, sofort wieder aufzulegen, tat es aber nicht. »Ist da jemand?«
Ein Rascheln, dann war plötzlich eine Stimme da. Eine Stimme, die er noch nie gehört hatte. »Ihre Tochter Kristina ist vierzehn Jahre alt und geht auf die Bergströmschule«, sagte ein Mann in kehligem, schwerfälligem Englisch. »Sie hat lange blonde Haare und trägt gerne handbreite Stirnbänder, heute ein dunkelblaues mit zwei kleinen eingestickten Pferden in gelb. Im Klassenzimmer sitzt sie in der dritten Bank von vorn, auf der Fensterseite, neben einem Mädchen namens Sylvia Wiklund. Im Moment hat sie Englisch, was nicht ihr Lieblingsfach zu sein scheint, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen …«
Hans-Olof war, als umschlösse eine eiskalte Hand sein Herz.
»Was soll das?«, ächzte er. »Wer sind Sie? Wozu erzählen Sie mir das?«
»Unser Bote, Herr Johansson, wird Sie heute Abend noch einmal aufsuchen«, sagte die kehlige Stimme. »Sie sollten diesmal berücksichtigen, dass wir auch andere Möglichkeiten haben als die, Ihnen Geld anzubieten.«
KAPITEL 7
Er fühlte sich wie unter Drogen, als er den Hörer auflegte. Kristina. Sie drohten, Kristina etwas anzutun.
Was für ein Albtraum. Kristina, großer Himmel. Was waren das für Menschen? Was war das, verdammt noch mal, für eine Welt?
Wasser. Ein tiefer Schluck, ein ganzes Glas auf einmal, und dann noch eines. Als würde er innerlich brennen, so fühlte es sich an.
Freilich, er musste sich ihnen fügen. Gegen so viel Heimtücke war er machtlos. Wenn er vor der Wahl stand, entweder die Ideale des Nobelpreises zu bewahren oder das Leben und die Gesundheit seiner Tochter, dann würde, dann musste er sich für Kristina entscheiden.
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