Der Nobelpreis
mir gegenüber und begann, nachdenklich Milch in ihren Kaffee zu rühren. »Ja. Damals war ich Vertrauenslehrerin an der Schule, also gewissermaßen von Amts wegen zuständig für die Nöte der Kinder. Kristina und ich haben damals viel miteinander geredet. Sie war auch oft bei mir zu Hause.«
Ich hob unwillkürlich die Augenbrauen und sah mich um.
»Hier?«
Sie schüttelte den Kopf, und ein melancholisches Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Nein, nicht hier. Damals habe ich noch … woanders gewohnt.«
Es war etwas Merkwürdiges in der Art, wie sie das sagte. Als hätte ich ein Thema berührt, das sie verbergen wollte. Ich nahm mir vor, bei Gelegenheit darauf zurückzukommen. »Was hatten Sie für einen Eindruck? Ist sie darüber hinweg?«
»Ich denke schon. Kristina hat eine bewundernswerte innere Kraft, wissen Sie? Ganz, ganz erstaunlich. Ich glaube, das verdankt sie ihrer Mutter. Das wird ihr auch keiner mehr nehmen können, diese innere Stärke und Unbeirrbarkeit.«
Ich hieb meine Zähne in den Kuchen, um nicht schreien zu müssen. Diese Frau hatte doch keine Ahnung vom Leben und von dem, was passieren konnte. Es gibt nichts, das einem ein anderer nicht nehmen könnte. Nichts.
Runterschlucken. Tief atmen. Sie meinte es nicht böse. Sie war nur naiv, das war alles. »Wenn Sie sagen, dass Sie ihre Mutter gut kannten«, fragte ich, »was war sie für ein Mensch?«
Sie dachte nach, die Tasse vor dem Gesicht. Ich musste an Inga denken und wie wir tagelang durch den Wald geirrt waren, hungrig und schmutzig, aber verbissen in unserem Entschluss, uns nicht einfangen zu lassen, nicht zurückzugehen, niemals wieder. Und wir hatten es geschafft. Wir waren nicht zurückgegangen. Wir hatten, nachdem unser Proviant aufgebraucht gewesen war, von Wasser aus Waldbächen gelebt, von Beeren und von dem, was wir in Mülleimern von Parkplätzen fanden, aber wir waren nicht zurückgegangen.
Was konnte eine Frau, deren Vorstellung von Unglück es war, ein paar Stapel Hefte zusätzlich korrigieren zu müssen, von solchen Dimensionen des Lebens wissen? Nichts.
»Hmm«, machte Birgitta und nippte an ihrem Kaffee. »Wenn ich es in einem Satz ausdrücken müsste, würde ich sagen, sie war glücklich. Eine sehr glückliche Frau. Irgendwie … gelöst. Schwer zu beschreiben. Dankbar dem Leben gegenüber, das trifft es vielleicht am besten.«
Verblüffend. Ja, so war Inga zuletzt gewesen. Und hatte mich damit vor ein Rätsel gestellt, das ich bis auf den heutigen Tag nicht gelöst hatte.
Ich räusperte mich. »Und Kristinas Vater? Kennen Sie ihn auch?«
»Ja, sicher. Er ist oft zu den Elternabenden gekommen, schon vor dem Tod seiner Frau.«
»Wie ist er so?« Das war jetzt interessant.
»Ein bisschen eigenartig, wenn ich ehrlich sein soll. Sie wissen sicher, dass er Professor am Karolinska-Institut ist?«
Ich nickte.
Sie hob die Hände. »Na ja. Und oft ist er so, wie Professoren eben sind. Nicht ganz bei der Sache. Geistesabwesend. Auch ziemlich verkrampft, würde ich sagen. Sehr …« – sie suchte nach dem passenden Wort – »verbissen. Und der Tod seiner Frau hat ihn schwer getroffen. Sie war bestimmt so etwas wie ein belebendes Element in seinem Dasein. Er hat sich sehr verändert seither, und er ist sicher noch nicht darüber weg. Man hat auch nicht das Gefühl, dass er daran denkt, wieder zu heiraten oder wenigstens neue Bekanntschaften zu schließen.«
»Und wie ist er seiner Tochter gegenüber?«
»Streng.« Sie nahm sich ein weiteres Stück Kuchen, bot mir auch eines an. »Viel zu streng, wenn Sie mich fragen. Zum Beispiel verbietet er ihr alle Freundschaften mit Jungs. Ich meine, das ist heutzutage doch wirklich altmodisch. Einmal hat sie einen Jungen mit nach Hause gebracht, völlig harmlos, einen Klassenkameraden. Sie war damals zehn Jahre alt und wollte ihm nur irgendwelche Musik vorspielen … Aber ihr Vater muss regelrecht ausgerastet sein. Es gab jedenfalls einen Riesenkrach, und von da an hat Kristina ihre Freundschaften mit Jungs sorgfältig vor ihm geheim gehalten.« Sie grinste. »Was nicht so schwer gewesen sein kann.«
Ich horchte auf. War das eine denkbare Spur? »Hat es Ihres Wissens zuletzt jemanden gegeben, den man als festen Freund bezeichnen könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Ich glaube, Kristina ist in der Hinsicht eher reserviert. Sie kam mir auch immer völlig unempfindlich gegenüber dem Druck vor, dem sich Mädchen in diesem Alter ausgesetzt sehen.
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