Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
Vom Netzwerk:
Kristina heute. Eigenartig, finden Sie nicht?«
    »Sie meinen, es liegt in den Genen?«
    »Ich weiß nicht, ob so etwas in den Genen liegt.« Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht und schien das alles lustig zu finden. »Falls ja, sehe ich schwarz für Sie. Denn nach dem, was Kristina mir erzählt hat, sind die beiden nie ins Waisenhaus zurückgekehrt. Sie haben sich bis ins Erwachsenenalter alleine durchgeschlagen, stellen Sie sich das vor.«
    Das konnte ich mir zweifellos besser vorstellen als sie. Es war Zeit, zur Sache zu kommen. »Interessant«, sagte ich, »aber ich denke, dass dieser Fall anders liegt. Was ich gerne wissen würde ist, ob Ihnen in den Tagen vor Kristinas Verschwinden etwas aufgefallen ist. Ob sie irgendwie ungewöhnlich wirkte. Ob sie mit jemand Fremdem geredet hat. Ob vielleicht ein Mann auf sie gewartet hat.«
    »Ein Mann?«, staunte sie. »Denken Sie, dass Kristina sich mit einem erwachsenen Mann eingelassen haben könnte?«
    »Aus ermittlungstechnischen Gründen kann ich nur sagen, dass wir Grund zu der Annahme haben«, erklärte ich. »Tut mir Leid, dass ich das so formulieren muss.« Plötzlich kam mir das Ganze sinnlos vor. So unbedarft, wie diese Frau war, hatte sie unter Garantie nichts bemerkt, das mir weiterhelfen würde.
    Ich sollte sie wirklich flachlegen, dachte ich. Das könnte ihrem Realitätssinn nur gut tun.
    Sie furchte die Stirn. »Lassen Sie mich mal nachdenken …«
    Es klang, als täte sie das nicht besonders oft.
    In dem Moment klapperte es an der Tür, und ein dunkelhäutiger Mann mit einem Kehrwisch in der Hand streckte den Kopf herein. »Noch nich’ aus?«, fragte er mit kehligem Akzent.
    Kristinas Klassenlehrerin schreckte hoch. »Wie? Oh, doch, ja. Einen Moment, warten Sie …« Sie drehte sich zu mir. »Sagen Sie, Herr Nilsson, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ehrlich gesagt, mir hängt der Magen in den Kniekehlen. Und zu Hause habe ich frischen Julkuchen. Hätten Sie nicht Lust, auf einen Kaffee mit zu mir zu kommen? Ich wohne gleich da drüben, in dem Hochhaus vorn an der Kreuzung. Keine fünf Minuten. Das ist morgens oft sehr praktisch«, fügte sie kichernd hinzu.
    Ich sah sie verdutzt an. Diejenigen Neuronen, die zu den stammesgeschichtlich eher älteren Teilen meines Gehirns gehören, hätten, wenn man sie gelassen hätte, eine Antwort formuliert, die ungefähr so geklungen hätte: Ja, genial, und dort fick ich dich dann, da kannst du machen, was du willst. Doch die Neuronen meines Großhirns waren in entbehrungsreichen Jahren der Sozialisation auf die Spielregeln der menschlichen Gesellschaft kalibriert und mit der Notwendigkeit zielstrebiger Heuchelei vertraut gemacht worden, und ihr Votum besaß höheres Gewicht. Deshalb bestand meine Reaktion nur in einem dezenten Nicken und in der Antwort: »Ja, warum nicht? Gern.«
    Es lief auf alle Fälle super, fand ich, als wir aufstanden.
     
    Auf dem Weg hinüber zu den Hochhäusern erfuhr ich ihren Namen. »Birgitta Nykvist. Ich bin die Klassenlehrerin der 8A und unterrichte Mathematik. Eigentlich. Vor ein paar Wochen musste ich die Klasse außerdem in Schwedisch übernehmen, weil eine Kollegin in den Mutterschutz gegangen ist«, plapperte sie munter, während wir die leicht ansteigende Straße hinaufstapften. »Auf die bin ich wirklich ärgerlich, das können Sie mir glauben. Wissen Sie, was die gemacht hat? Stapelweise Aufsätze einfach liegen lassen. Teilweise seit Monaten, in allen Klassen, die sie hatte. Das heißt, ich darf jetzt Aufsätze aus über zwei Monaten korrigieren, stellen Sie sich das vor. Ich habe keine Ahnung, wann ich das überhaupt machen soll.«
    Ich gab nur ein nichtssagendes Brummen von mir. Sorgen eines behüteten Daseins. Den Luxus, mir über solche Nichtigkeiten den Kopf zu zerbrechen, hätte ich auch gern einmal gehabt.
    Es waren zwei olivgrüne Hochhäuser, die da am Hang gegenüber der Schule standen, sechs Stockwerke hoch und umlagert von dürren, schlanken Kiefern. Wie sich herausstellte, wohnte Birgitta im obersten davon. Und es gab keinen Aufzug.
    »So, Feierabend«, verkündete sie, als wir endlich oben waren und sie die Wohnungstür aufschloss. Im Gegensatz zu mir atmete sie nicht einmal tiefer. Mit einem Handgriff, der von Gewohnheit kündete, zog sie ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche, schaltete es aus und steckte es in eine Ladestation auf einer Kommode gleich neben der Wohnungstür.
    Gute Idee. Ich griff in die Tasche und schaltete mein Telefon ebenfalls ab.

Weitere Kostenlose Bücher