Der Nobelpreis
kam es ihm nur so vor? Er sah in die Runde und erblickte verkniffene, unzufriedene Gesichter, düstere Blicke, zusammengepresste Lippen, Desinteresse. Manche sahen auf die Uhr, als hätten sie heute noch wichtigere Termine als diesen.
Es klingelte lange, dann hob jemand krachend ab. Eine junge Männerstimme, die Schweizerdeutsch sprach, das kaum Ähnlichkeit mit dem Deutsch hatte, an das Hans-Olof sich aus seiner Schulzeit vage erinnerte. »Rütlipharm Laboratorien, Abteilung C, mein Name ist Bernd Hagemann, was kann ich für Sie tun?«
Die Stimme des Komiteevorsitzenden. Sein Englisch stand dem eines BBC-Sprechers in nichts nach. »Guten Tag, mein Name ist Ingmar Thunell. Ich hätte gerne Frau Hernández Cruz gesprochen.«
»Einen Moment, ich verbinde«, antwortete der Mann, ebenfalls auf Englisch, allerdings in der Schweizer Variante. Ein paar sehr synthetisch klingende Takte eines Klavierkonzerts, dann meldete er sich wieder. »Tut mir Leid, die Frau Professor ist gerade in einer Besprechung. Soll ich etwas ausrichten, oder möchten Sie noch einmal anrufen?«
Das sorgte jetzt doch für Lacher in der Runde.
Thunells Contenance war durch nichts zu erschüttern. »Ich glaube«, sagte er mit herrlicher Seelenruhe, »es wäre angebracht, wenn Sie mich trotzdem zu ihr durchstellten.«
»Es ist aber eine sehr wichtige Besprechung«, beharrte der junge Mann.
»Das glaube ich gern«, ließ sich Thunell vernehmen. Wer ihn gut kannte, hörte heraus, wie ihn die Situation amüsierte. »Es ist aber auch ein sehr wichtiger Anruf.«
»Hmm«, zögerte der Schweizer. »Und was soll ich ihr sagen?«
»Sagen Sie ihr, es ist Stockholm.«
»Stockholm.« Man hörte Papier rascheln. Anscheinend ging der Mann hastig irgendwelche Listen durch. »Und, ähm, wer in Stockholm?«
»Das Nobelkomitee«, sagte Thunell genüsslich.
Die Antwort bestand nur in einem entsetzten Japsen, dann erklang erneut das Klavierkonzert, lange, bevor es schließlich abrupt abbrach.
»Hernández Cruz.« Eine dunkle Frauenstimme, die eine kaum glaubliche Ruhe ausstrahlte. Hans-Olof, dem erst jetzt bewusst wurde, wie angespannt er die ganze Zeit gewesen war, spürte, wie auf einmal seine Schultern wie von selbst herabsanken, als würden sie schwer allein vom Klang dieser Stimme. Um ihn herum wurden Gesichter weicher, glätteten sich Stirnen, entspannten sich Mundpartien.
»Guten Tag, Frau Professor Hernández Cruz«, hörte man den Chairman sagen. »Mein Name ist Ingmar Thunell. Ich bin der Vorsitzende des Nobelkomitees am Karolinska-Institut und habe die Freude, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihnen der diesjährige Medizinnobelpreis zuerkannt worden ist. Ungeteilt«, fügte er hinzu.
Einen endlosen Augenblick war alles still. Dann sagte die Frau nur: »Oh!« Es war ein eigentümlich schlichter Laut, der dennoch eine ganze Palette von Gefühlen auszudrücken imstande schien – Freude, Überraschung, Genugtuung, Belustigung, sogar so etwas wie Trauer. »Wie schön«, fuhr sie nach einem Moment fort. »Ich muss sagen, das überrascht mich jetzt allerdings ziemlich.«
Hans-Olof war verwirrt. Das klang nicht einmal geheuchelt, obwohl irgendjemandem doch klar gewesen sein musste, dass sie gewinnen würde. Hatte man ihr nichts gesagt? Es sah so aus. Wozu auch? Auch sie war nur eine Figur in einem Spiel, das andere spielten. Mächtigere. Skrupellosere.
Er stand auf. Plötzlich hielt er es nicht mehr aus, keine Minute länger. Unter den verwunderten Blicken der anderen ging er zur Tür, drückte die Klinke, entkam dem Raum und der stickig gewordenen Luft, trat hinaus auf die Galerie, auf der es kühl war und still. Am Geländer blieb er stehen, lauschte dem verhaltenen Gemurmel von unten, wo die Journalisten ihre Kameras aufbauten und geduldig ausharrten, blickte ins Leere und wartete, bis das Gefühl von Beklemmung sich löste.
Unten eilte ein Mann mit zerzausten blonden Haaren und dicker Hornbrille das Foyer entlang. Es gab keinen Grund zur Eile, die Pressekonferenz begann erst in gut einer Stunde. Und er wirkte auch nicht so, als hätte er es eilig, sondern als renne er gewohnheitsmäßig. Auf halber Strecke schien er zu spüren, dass er beobachtet wurde, sah hoch und musterte Hans-Olof seinerseits mit einem so durchdringenden Blick, dass dieser zwei Schritte von der Brüstung wegtrat, um außer Sicht zu sein.
Noch über eine Stunde. Hans-Olof merkte auf einmal, dass seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Die Pressekonferenz würde die
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