Der Nobelpreis
Befreiung bedeuten. Kristinas Entführer würden sie sehen – sie wurde live im Fernsehen übertragen – und wissen, dass ihr Plan gelungen war.
Ein hagerer junger Mann kam die Treppe empor, einen Ausweis ans Hemd geklemmt, einen Laptop unter dem Arm. Der Wachmann ließ ihn passieren. Hans-Olof kannte ihn; es war der Webmaster, der die Internetseite der Nobelstiftung betreute. Ihm oblag es, den Text der Presseerklärung in demselben Moment, in dem sie unten im Wallenberg-Saal verlesen wurde, ins Internet zu stellen.
Noch eine Stunde.
Was hatte es für einen Zweck, hier zu warten? Besser, er war zu Hause, wenn Kristina zurückkam. Ja, genau. Er würde heimgehen. Er hatte seine Pflicht erfüllt, dem Nobelpreis gegenüber und seiner Tochter gegenüber auch.
Aber dann ging er doch nicht. Irgendwie war er nicht imstande, sich aufzuraffen. Stattdessen setzte er sich auf eines der Sofas auf der Galerie, horchte auf das Hallen ferner Stimmen im Foyer, die Geräusche einsamer Schritte, das Tickeln gelegentlicher Regenschauer gegen die Scheiben. Es roch nach Reinigungsmitteln, nach Feuchtigkeit, nach Kaffee …
Kaffee. Er stand auf, ging die Galerie entlang, in Richtung auf die Speiseräume. Langsam. Er hatte Zeit. Bedächtig nahm er eine der weißen Tassen, die auf dem schön gedeckten Tisch aufgestellt bereitstanden, goss Kaffee ein. Dann trat er ans Fenster damit, sah hinaus in den grauen Vormittag, trank in kleinen Schlucken, konzentrierte sich auf den bitteren Geschmack. Nur nicht darüber nachdenken, was da eben im Versammlungsraum passiert war. Nur nicht darüber nachdenken.
Als ihn jemand unvermutet ansprach, erschrak er derart, dass er sich im Zusammenzucken den halben Inhalt seiner Tasse über den Anzug schüttete.
»Oh, das tut mir Leid, Hans-Olof, entschuldigen Sie!« Es war Marita Ailing, eine der wenigen Frauen, die dem Nobelkollegium angehörten. Eine stämmige Frau um die fünfzig mit goldumrandeter Brille und einem Hang zu hochtoupierten Frisuren, die in der Leukämieforschung arbeitete. Sie zog eilig ein ganzes Bündel Papierservietten aus dem Spender und hielt sie ihm hin. »Das war dumm von mir; ich hätte sehen müssen, dass Sie völlig in Gedanken waren. Hier, nehmen Sie … Himmel, Ihr guter Anzug. Ich hoffe, das geht wieder raus? Ich bezahle Ihnen selbstverständlich die Reinigung.«
»Schon gut, halb so schlimm.« Aber natürlich war es schlimm. Ein grauer Glencheck-Anzug, der letzte, den Inga noch für ihn ausgesucht hatte, und die braune Brühe fraß sich in die hellen Fasern zwischen den dunklen Streifen, als sei es Säure. Hans-Olof ließ sich die Unglückstasse aus der Hand nehmen und rieb in hilfloser Anstrengung über die betroffenen Stellen. »Ich hätte besser aufpassen sollen.«
»Nicht reiben, so verteilen Sie es nur. Sie müssen tupfen, es aufsaugen … Warten Sie, hier sind frische Tücher.« Sie plünderte den Spender vollends, nahm ihm die braun verfärbten Servietten aus der Hand und warf sie mit einem Geschick, das von jahrzehntelanger Laborerfahrung kündete, in den abseits stehenden Papierkorb. »Ich kenne eine gute Reinigung in der Stadt, wirklich sehr gut. In der Sergelgatan. Was die mir schon Blusen und Blazer gerettet haben, Sie würden es nicht glauben.«
Im Grunde war er froh, dass sie plapperte und er sich darauf beschränken konnte, die Flecken zu bearbeiten; es bot ihm die Gelegenheit, sich wieder zu fangen.
»Es tut mir wirklich Leid. Ich war so aus dem Häuschen, weil endlich einmal wieder eine Frau den Nobelpreis bekommen hat, und dazu ungeteilt«, erzählte Marita. »Wissen Sie, dass das letzte Mal über zwanzig Jahre her ist?«
Hans-Olof nickte. »Barbara McClintock, 1983. Das war in dem Jahr, als ich mich am Karolinska beworben habe.« Er gab es auf. Der Anzug war mit Hausmitteln nicht mehr zu retten. Er warf die letzte Serviette in Richtung Papierkorb, verfehlte ihn aber.
»Die McClintock, genau. Und sie hat dreißig Jahre lang darauf warten müssen.« Barbara McClintock hatte ihre Entdeckungen der beweglichen Strukturen in der Erbmasse zu einer Zeit gemacht, als noch nicht einmal der Aufbau der DNS bekannt gewesen war. Marita Ailing seufzte. »Und jetzt Sofía Hernández Cruz, und bei ihr hat es nicht einmal zwanzig Jahre gedauert. Wissen Sie, Hans-Olof, manchmal habe ich doch das Gefühl, dass die Dinge langsam besser werden.«
»Tatsächlich?« Hans-Olof spürte einen Stich in der Brust. Ja, daran hatte er auch einmal geglaubt. An den Fortschritt in
Weitere Kostenlose Bücher