Der Nobelpreis
Klang in der Stimme.
»Mario Gallo«, wiederholte der Schriftführer. »Fünf Stimmen.«
Der gegenwärtige Vorsitzende war bekannt für seine hartnäckige Gewohnheit, die Kandidaten nach dem Alphabet aufzurufen, nicht nach der Reihenfolge auf der Vorschlagsliste des Komitees. »Professor Sofía Hernández Cruz?«
Hans-Olof Andersson hob die Hand.
Und stellte sich endlich eine Frage, die er sich die ganze Zeit schon hätte stellen sollen. Nämlich: Was nützt das nun eigentlich?
Unglaublich, dass er darüber überhaupt nicht nachgedacht hatte. Dabei lag es auf der Hand. Was nützte es jemandem, nur ihn allein aus einem Gremium von fast fünfzig Stimmberechtigten zu bestechen oder zu erpressen? Nichts. Wenn alles einen Sinn machen sollte, brauchte dieser Jemand weit mehr Stimmen. Für die Wahl des Laureaten genügte die einfache Mehrheit, aber wenn er auf Nummer Sicher gehen wollte, musste er die halbe Nobelversammlung unter seine Kontrolle bringen.
Hans-Olof Andersson hob seine Hand und sah, ohne es fassen zu können, wie vierundzwanzig weitere Mitglieder der Versammlung es ihm gleichtaten.
Sogar Bosse Nordin.
KAPITEL 10
Ingmar Thunell sah in die Runde, die weißen Augenbrauen in einem Ausdruck äußersten Erstaunens erhoben.
»Fünfundzwanzig«, stellte er fest. Er hob die Hand, um sich mit dem kleinen Finger die Stirn dicht über der Nasenwurzel zu reiben. »In Anbetracht unserer verringerten Zahl ist das die absolute Mehrheit, wenn ich das richtig sehe?«
Der Schriftführer nickte. Thunell sah sich noch einmal um, betrachtete die erhobenen Hände, als könne er es kaum glauben. »Nun«, meinte er schließlich mit einem Schulterzucken, »in dem Fall brauchen wir mit der Abstimmung nicht weiterzumachen. Dann ist das Votum zur Abwechslung einmal von erfreulicher Klarheit.«
In den vorangegangenen Jahren hatte es mehrmals Gleichstand der Stimmen für verschiedene Kandidaten gegeben, und man war nur nach hitzigen Diskussionen zwischen den Meinungsführern zu einem gültigen Beschluss gekommen. Einmal hatten die zur Pressekonferenz angereisten Journalisten bis in die Abendstunden auf eine Entscheidung warten müssen.
Von denen, die nicht für Sofía Hernández Cruz gestimmt hatten, blickten einige völlig verdutzt drein. »Das überrascht mich jetzt«, hörte man jemanden vernehmlich flüstern, und wie eine heranrollende Woge setzte unzufriedenes Murren und Murmeln ein.
Thunell räusperte sich, weniger, um die Stimme freizubekommen, als um die allgemeine Unruhe zum Erliegen zu bringen, und verkündete: »Ich stelle hiermit fest, dass die Nobelversammlung am Karolinska-Institut entschieden hat, den diesjährigen Nobelpreis für Medizin oder Physiologie Frau Professor Sofía Hernández Cruz zuzuerkennen.«
Ringsum war verwundertes Kopfschütteln zu sehen, immer noch, und nicht wenige zuckten mit den Schultern und runzelten die Stirn. »Jedenfalls wird diesmal keiner sagen können, wir seien ein Haufen alter Machos«, meinte jemand unüberhörbar.
Thunell klopfte mit dem hinteren Ende seines Kugelschreibers auf seine Schreibunterlage. Er hatte die eigentümliche Fähigkeit, damit ein Geräusch zu erzeugen, das wie das Hämmerchen eines Richters klang. »Die Sitzung ist geschlossen«, erklärte er und fügte mit einem schiefen Lächeln hinzu: »Teilen wir der Frau die gute Nachricht mit.«
Das berühmte Telefonat, auf das alljährlich an diesem Tag überall in der Welt Leute uneingestanden warteten und hofften, fand stets unmittelbar nach der Sitzung der Nobelversammlung statt – sobald die Entscheidung gefallen war und bevor die Presse informiert wurde. Zahllose Anekdoten ranken sich um die Anrufe aus Stockholm. In den letzten Jahrzehnten waren die weitaus meisten Nobelpreise an Amerikaner gegangen, und in den USA war es um diese Zeit, je nachdem, wo der Betreffende lebte, entweder furchtbar spät in der Nacht oder furchtbar früh am Morgen. Nicht selten meldete sich die Ehefrau des Betreffenden mit deutlicher Furcht in der Stimme, denn ein Telefonklingeln um zum Beispiel halb drei Uhr nachts ist im normalen Leben ein eher unheilvolles Vorzeichen. Die magischen Worte, mit denen der Hörer dann weitergereicht wurde, lauteten oft: »Es ist Stockholm.«
Die meisten Laureaten klangen im ersten Augenblick nicht überrascht, sondern erleichtert. Im weiteren Verlauf des Tages fanden sie sich jedoch schnell in die Rolle hinein, die man von ihnen erwartete – die des völlig Überraschten, den der Preis aller
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