Der normale Wahnsinn - Roman
gerade die Sonne aufgeht, obwohl das sicherlich hilft. Die Ärzte haben gemeint, Cameron sehe schon wieder besser aus. Für mich sieht er zwar immer noch so elend aus wie gestern, aber sein Fieber ist gesunken und sein Herzschlag hat sich auch beruhigt. Und sie haben gemeint, dass er die Nacht überstanden hat, sei ein gutes Zeichen. Und dann ist da auch noch Kate. Es hebt meine Laune, dass sie da ist. Ist das nicht fantastisch?
Etwas ist gestern Nacht zwischen uns geschehen. Nichts wirklich Epochales. Wir haben uns weder in den Armen gelegen noch Stunden geplaudert. Sie hat mir nicht mal genau erzählt, was mit Marco auf dieser Beerdigung los war. Aber das macht nichts. Die Tatsache, dass sie sich mir gegenüber überhaupt geöffnet hat, war wichtig. Zwischen uns hat es »klick« gemacht. Zum ersten Mal hat sie mich wie einen Menschen, nicht wie einen Dienstboten behandelt. Und das lag nicht allein am Stress und der besonderen Situation, in der sie sich gestern befand, denn auch heute Morgen ist unser Verhältnis ein anderes. Sie war draußen, um mir einen Kaffee zu besorgen, und hat sogar noch ein Croissant als Bonus draufgelegt. Sie kennen Kate nicht so wie ich und können sich daher nicht vorstellen, was das bedeutet.
Dieser Sinneswandel hat dazu geführt, dass auch ich meine Situation neu überdenke. Vielleicht werde ich doch nicht nach Australien zurückkehren. Jedenfalls nicht jetzt. Zu dem Wenigen, das ich gestern von Kate erfahren habe, gehört die Tatsache, dass Marco nicht mehr im Haus sein wird, wenn wir zurückkehren. Entweder hat sie ihn rausgeschmissen, oder er ist aus freien Stücken gegangen. Wenn man die beiden kennt, liegt die erste Möglichkeit irgendwie näher. Wie dem auch sei, in der momentanen Situation brauchen sie und Cam mich mehr denn je. Und ohne Marco im Haus wird das Leben für alle Beteiligten auch gleich viel entspannter sein. Und weniger beängstigend.
»Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen, dass du hier bist«, sagt Kate. »Danke schön.«
»Ehrlich, das ist doch nicht der Rede wert.«
»Was redest du denn da? Hast doch kaum geschlafen die letzte Nacht und siehst total fertig aus.«
»Du siehst auch ziemlich mitgenommen aus, Kate. Falls du also heute ein Vorstellungsgespräch haben solltest, vergiss es.«
Sie lacht, und ich lache auch. Es ist kaum zu glauben. Kate und ich lachen zusammen. Nie zuvor habe ich dergleichen mit ihr erlebt.
»Willst du den Rest haben?«, fragt sie und hält mir ihr Croissant hin. »Ich bin pappsatt.« Sie hat gerade mal zwei Bissen davon gegessen – na ja, manche Dinge ändern sich eben nie. Ich nehme ihr das Croissant aus der Hand, und meine Entscheidung steht fest: Ja, ich werde definitiv noch eine Weile hierbleiben. Istdas nicht unglaublich? Da wird meine Zukunft allein durch ein Croissant besiegelt!
»Okay, wer von uns beiden fährt denn nun zuerst nach Hause, um zu duschen?«, fragt Kate.
»Mir egal. Du kannst fahren, wenn du magst.«
»Aber nein, du sitzt doch hier schon viel länger rum. Du –«
Sie hält inne, weil soeben der Arzt bei uns aufgetaucht ist. Er ist nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau, die keinen weißen Kittel trägt. Doktor Adu ist ein freundlicher Afrikaner, doch im Moment lächelt er nicht. Auch seine Begleiterin wirkt alles andere als glücklich.
»Mrs Lister«, sagt er, »ich denke, wir sind mit der Diagnose ein Stück weitergekommen.«
»Sehr gut«, erwidert Kate. »Was ist denn nun mit meinem Sohn los?«
»Vielleicht sollten wir das in einer etwas privateren Umgebung besprechen«, meint der Arzt mit Blick auf mich.
»Das ist schon in Ordnung«, sagt Kate und ergreift meine Hand. »Christie ist Camerons Nanny. Sie muss es ebenfalls erfahren.«
»Ja, aber wir sollten das wirklich in Ruhe besprechen«, sagt die Frau an Doktor Adus Seite.
»Und Sie sind?«, fragt Kate auf ihre kalte, professionelle Art und Weise.
»Bitte entschuldigen Sie, ich hätte Sie einander vorstellen sollen«, sagt Doktor Adu. »Das hier ist June Beardsley. Sie ist Sozialarbeiterin.«
Eine Sozialarbeiterin? Was soll das alles? Kate sieht mich ratlos an, aber ich bin genauso verwirrt wie sie.
»Um was geht’s hier eigentlich?«, verlangt sie schließlich zu wissen.
»Vielleicht sollten wir nach draußen gehen«, schlägt die Sozialarbeiterin vor.
Ich bleibe an Camerons Bett, während die anderen zur Tür hinausgehen. Durchs Fenster der Intensivstation kann ich sie in der Nähe des Stationseingangs stehen und reden
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