Der normale Wahnsinn - Roman
Schlimmste noch gar nicht gesagt.
»Ich bin im Whittington«, sage ich. »Musste Cameron wieder hierher bringen.«
»Was ist mit ihm?«
»Er hat wieder hohes Fieber und will nicht aus dem Schlaf erwachen.«
»Wieder die Lungenentzündung. Ein Rückfall?«
»Vielleicht … Ich weiß es nicht. Wir warten auf den Arzt.«
»Ich bin unterwegs. Bin in etwa einer Viertelstunde da … Mein Gott, Christie, was haben wir nur verbrochen, dass uns das dauernd passiert?«
Uns? Das ist neu. Meint sie mit »uns« sich und Cameron oder mich und sie? Oder sich und Marco? Oder uns alle vier. Was auch immer, nie zuvor hat mir Kate auch nur ansatzweise ein Wir-Gefühl vermittelt. Vielleicht hat sie beschlossen, sich zu ändern. Beerdigungen hinterlassen manchmal einen tiefen Eindruck bei den Menschen – das weiß ich aus Erfahrung.
Durch den Vorhang tritt eine Ärztin an Camerons Bett – eine herrisch wirkende Inderin. »Sind Sie mit Ihren persönlichen Telefonaten für heute fertig, Marcia …? Okay, wen haben wir denn hier?« Sie schaut hinab zu Cameron und wendet sich dann mir zu. »Sind Sie die Mutter?«
Christie : Es ist fast Mitternacht, als ich mit ein paar Kaffeebechern zurück auf die Intensivstation komme. Kate ist immer noch dort, wo ich sie vor zwanzig Minuten zurückgelassen habe – neben Camerons Bett. Ich setze mich auf den Stuhl neben sie und reiche ihr einen der Pappbecher.
»Danke«, sagt sie.
»Ich hab keine Ahnung, wie der schmeckt, aber es ist um diese Uhrzeit fast unmöglich, hier noch einen Kaffee zu bekommen.«
»Egal, den brauche ich jetzt.«
Sie hebt den Deckel und nippt an dem Gebräu. Dann verzieht sie das Gesicht und trinkt noch einen Schluck. Ja, sie muss ihn wirklich brauchen. Auch sie sieht fix und fertig aus. Aber Cameron geht’s noch schlechter. Er ist immer noch bewusstlos und ist seit meinem Eintreffen hier nicht einmal aufgewacht. Er ist an einen Überwachungsmonitor angeschlossen, wird künstlich beatmet und über Schläuche mit Flüssigkeit und Antibiotika versorgt. Er sieht schrecklich aus. Der letzte Arzt, der mit uns gesprochen hat, sagte, sein Zustand sei »ernst«, aber »stabil«. Was ist los mit ihm? Wir wissen es nicht. Es könnte wieder die Lungenentzündung sein, oder auch eine neue Infektion. Höchstwahrscheinlich ist es keine Meningitis, aber ganz ausgeschlossen haben sie das auch nicht. Es könnte eine Krankheit sein, die sie noch nicht diagnostiziert haben oder von der sie beschlossen haben, uns nicht zu erzählen. Vielleicht wissen wir morgen mehr – man muss noch einige Tests machen … Wenn er dann noch lebt, heißt das. Ich habe es Kate gegenüber nicht erwähnt, aber ich mache mir ernsthaft Sorgen um Cameron. Selbst vor zwei Wochen ging es ihm nicht so schlecht wie heute.
»Gehen Sie nach Hause, Christie«, sagt Kate. »Es ist ja nicht nötig, dass wir beide hier ausharren.«
»Aber ich möchte bleiben«, sage ich ihr zum vielleicht zehnten Mal an diesem Abend. »Wirklich, das ist okay für mich.«
»Danke«, sagt sie. »Ich möchte eigentlich auch, dass Sie bleiben.«
Jesus, sie scheint sich wirklich verändert zu haben.
»Ich hab große Angst, wissen Sie?«, fährt sie fort. »Was passiert da gerade mit ihm?«
Sie trägt immer noch Schwarz. Ich hoffe, das ist kein böses Omen.
»Er wird schon wieder gesund werden«, sage ich, obwohl ich davon nicht wirklich überzeugt bin. »Er ist stark, ein richtiger kleiner Kämpfer.«
»Ach ja?«
»Ja, das ist er. Sie haben doch selbst gesehen, wie tapfer er die Lungenentzündung bekämpft hat.«
»Ich war zu beschäftigt mit Kündigungen, wissen Sie«, sagt sie. »Sie kennen ihn so viel besser als ich. Ist das nicht ein Armutszeugnis?«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Zum Teil hat sie sicherlich Recht. Doch von ihr hätte ich ein solches Eingeständnis als Letztes erwartet. Da muss schon viel passieren, bevor sie ihre Haltung verliert. Nie zuvor hab ich sie so verletzlich erlebt.
»Was ist das Schlimmste, das Ihnen je passiert ist, Christie?«, fragt sie mich jetzt.
Die Frage kam wie aus dem Nichts, und wieder weiß ich nicht, was ich darauf sagen soll. Obwohl das nicht stimmt. Ich könnte ihr wie aus der Pistole geschossen darauf antworten, aber ich weiß nicht, ob ich das will. Andererseits nimmt mich das alles hier auch sehr mit, und ich würde gern mit jemandem darüber reden. »Als mein Bruder starb«, sage ich daher. »Das war definitiv das Schlimmste, das mir je passiert
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