Der normale Wahnsinn - Roman
ist.«
»Mein Gott, das tut mir leid …« Erschüttert sieht sie mich an. Wahrscheinlich dachte sie, ich erzähle ihr jetzt eine lähmend langweilige Teenager-Herzschmerz-Schmonzette oder so. »Das ist ja furchtbar. Ich wusste nicht mal, dass Sie einen Bruder hatten.«
»Sie sind auch die Erste, der ich davon erzählt habe«, sage ich. »Er hieß Shaun. Er war ein paar Jahre älter als ich.«
»Was ist denn geschehen … Oder wollen Sie vielleicht nicht darüber sprechen?«
»Er wurde krank … Es war … Es war sehr schlimm …«
Er starb an einer Lungenentzündung. Aber wie könnte ich ihr das jetzt sagen? Und wie könnte ich ihr sagen, dass er eine Lungenentzündung bekam, weil er an AIDS erkrankt war? Und dass er AIDS hatte, weil er ein dummer Junkie war, der seine Spritzen mit jedem anderen dummen Junkie in Melbourne geteilt hat.
»Ist das schon länger her?«
Ich schüttele den Kopf. »Es geschah, kurz bevor ich nach England kam. Deshalb bin ich überhaupt hierhergekommen, schätze ich. Ich konnte es nicht mehr aushalten dort. Bin irgendwie davongelaufen, denke ich. Und ich fühle mich sehr schlecht deswegen. Meine Eltern haben es noch viel schwerer genommen als ich, und ich hätte sie nicht so einfach im Stich lassen sollen. Für sie war es wohl, als hätten sie gleich zwei Kinder verloren.«
Sie langt zu mir herüber und nimmt meine Hand. »Aber im Grunde sind doch Sie diejenige, die nun allein ist, nicht?«, sagt sie.
Das ist das Netteste, was sie je zu mir gesagt hat. Gott, es ist auch das Netteste, was irgendjemand je zu mir gesagt hat. Ich kämpfe meine Tränen zurück, aber aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, dass auch ihre Wangen vor Nässe glänzen.
Doch Kate wäre nicht Kate, wenn sie sich nicht schnell wieder im Griff hätte. Und so reißt sie sich zusammen und sagt: »Tja, und ich dachte schon, das heute wäre der schlimmste Tag meines Lebens, aber ihr Schicksal rückt alles in ein etwas anderes Licht.«
»Er wird es überstehen, Kate. Ich weiß, dass er es schafft.«
»Hoffentlich haben Sie Recht. Aber es ist ja nicht nur Cameron …«
»Wie meinen Sie das?«
Sie zuckt die Achseln und wirkt, als wollte sie etwas hinzufügen, doch sie tut es nicht.
»Ist es wegen der Arbeit? Jemand, der so viel drauf hat wie Sie, findet doch jederzeit wieder ’nen Job.«
»Danke, aber das ist es nicht … Es ist wegen … na ja, Sie wissen schon.«
Ich verstehe, sie redet von Marco. Hab mich schon gefragt, warum er nicht hier ist, wollte sie aber nicht danach fragen. Es muss wirklich schlimm um die beiden stehen, wenn er nicht mal zu seinem schwerkranken Sohn in die Klinik kommt.
»Ich weiß, es war nicht sehr angenehm mit uns beiden in letzter Zeit«, sagt sie. »Sorry.«
»Kein Problem. Sehen Sie, es geht mich zwar nichts an, aber in allen Beziehungen gibt’s mal schwere Zeiten, nicht wahr?«
»Um ehrlich zu sein, unsere Beziehung war eine einzige schwere Zeit. Und jetzt ist sie sogar über diesen Punkt hinaus.«
»Wollen Sie darüber reden?«, frage ich.
»Tja, heute Nachmittag ist die Sache eskaliert. Auf dieser verdammten Beerdigung.«
»Sie haben sich gestritten?« Nicht, dass es mich wundern würde, wenn Kate mitten auf ’ner Beerdigung ’ne Riesenszene machen würde.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe nur etwas über ihn herausgefunden – ich und auch all die anderen Trauergäste, um genau zu sein. Es war so verdammt erniedrigend.«
Jetzt wirkt sie fast ärgerlich, klingt wieder mehr nach der alten Kate. Die alte Kate? Ich meine natürlich die Kate von heute Morgen.
Und dann höre ich mich plötzlich fragen: »Er hat eine Affäre, nicht wahr?«
»Nur in seiner Fantasie … Nur in seiner gottverdammten Fantasie.«
FREITAG
Christie : Kate reicht mir den Pappbecher. »Vom Café auf der anderen Straßenseite«, sagt sie. »Sollte besser schmecken als das Gesöff von gestern Abend. Hab dir auch was zu essen mitgebracht. Dachte, du hast vielleicht Hunger.« Sie drückt mir eine Tüte mit Croissants in die Hand.
»Danke, ich bin wirklich kurz vorm Verhungern.«
Gierig mache ich mich über das Gebäck her. Hab die ganzen Stunden hier nicht ans Essen gedacht, aber jetzt könnte ich ein ganzes Pferd verspeisen. Und das nicht nur im übertragenen Sinne. Ich meine, ein richtiges leibhaftiges Pferd. Nein, da bin ich nicht zimperlich, schließlich bin ich Australierin.
Die Dinge erscheinen heute Morgen schon wieder in einem etwas positiveren Licht. Nicht nur, weil
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