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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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konnte sich gerade noch ducken, sodass die Kugelsich in das Polster der Rückbank bohrte. Noch im Fahren stieß G. die Tür auf und sprang aus dem Wagen, die Nussknackerin in der Hand. Der Fahrer bremste, sprang aus dem Taxi und folgte G. zu Fuß, noch immer die Makarov in der Hand. Während er G. verfolgte, schoss er mehrmals auf ihn. Eine der Kugeln traf G. in den rechten Arm. Er konnte die Nussknackerin nicht mehr festhalten, sodass sie über den Asphalt schlitterte, über die Kante rutschte und ins Hafenbecken stürzte. Der Taxifahrer schoss fluchend ins Wasser, bis keine Patrone mehr in der Makarov war, konnte die bereits untergetauchte Nussknackerin aber nicht mehr treffen. G. erlag noch am selben Abend seinen Verletzungen.

1985, Norderney, BRD
    »Und, hast du heute endlich mal was gefangen?«, fragte eine Frau genervt.
    Sie lag in einem purpurnen Bikini in einem Sonnenstuhl und trug eine Sonnenbrille, die so groß war, dass sie beinahe das ganze Gesicht verdeckte und an Puck erinnerte, die Stubenfliege aus »Biene Maja«. Oder an die des polnischen Generals. Die Frau war so braun wie Schokoladencreme.
    »Ja, hier!«
    Der Mann, der eine teuer aussehende Angel in der Hand hielt, warf mich seiner Frau in den Schoß. Die Frau lachte, als wäre ich der größte Scherz aller Zeiten. Immer wieder rief sie: »Sandra! Sandra!«
    Sandra klappte ein Buch zu, auf dessen Deckel ein Motiv abgebildet war, das genauso aussah wie ich. Wie eine Schlafwandlerin erhob sie sich von ihrem Liegestuhl, blickte mich an und sah dabei ziemlich verwirrt aus, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. Sie sah nämlich das, was sie gerade gelesenhatte. Als würde der Roman zur Wirklichkeit, Literatur zu Leben.
    »Das ist doch …«
    »Ein Nussknacker. Papi hat ihn gefangen«, sagte die Frau, die sich köstlich amüsierte.
    »Sehr witzig!«
    Papi ließ die beiden stehen. Die Tochter sah zur Mutter. Auch sie lächelte jetzt. Dabei sah sie noch immer aus, als wäre ich ihr nicht ganz geheuer.
    »Darf ich ihn haben?«
    »Klar.« Die Mutter reichte mich Sandra.
    »Das ist ja ein Nussknacker und keine Nussknackerin«, sagte sie. Worauf ihre Mutter dreinschaute, als wäre ihre Tochter keine Tochter, sondern ein Hornochse.
    Sandras urlaub war am nächsten Tag zu Ende. Vielleicht war der Angelmisserfolg des Vaters doch zu einschneidend. Mit dem Mercedes ging es von der Insel Norderney zurück nach Hause. Der Vater fuhr wie eine gesengte Sau, und Sandra schloss immer wieder die Augen.
    Zu Hause stand ich monatelang nutzlos im Kinderzimmer und langweilte mich. Da half auch die zur Wirklichkeit gewordene Literatur nichts. Es war so ähnlich wie im Hafen von Norderney. Nur trocken.
    Bis Sandra mich irgendwann vom Regal holte, unter ihren Pullover steckte und das Kinderzimmer verließ.
    Endlich! , dachte ich und war gespannt darauf, was jetzt passieren würde.

1985 – 1987, Schwäbische Alb, BRD
    »Wir dürfen uns nicht mehr sehen.«
    Sandra klang betrübt. Es sah aus, als hätte sie Tränen in den Augen.
    »Wer sagt das?« Ein anderes Mädchen, ungefähr so alt wie Sandra, wollte es nicht glauben.
    »Mein Vater! Kira, es tut mir leid.«
    »Der spinnt doch.« Kiras Stimme klang verärgert.
    Sie nahm ihre Freundin in den Arm, wie gute Freundinnen es eben tun.
    »Er sagt, du bist kein guter umgang für mich.«
    »Als ob der das wüsste!« Kira spuckte auf den Boden.
    »Er sagt, die Ökospinner sollen seine Tochter nicht versauen.«
    »Ökospinner?«
    »Ja, das hat er gesagt.« Sandra tippte sich an die Stirn. »Weil ihr gegen die Bebauung in der neuen Siedlungsanlage geklagt habt.«
    »He, Mann, das ist ein Naturschutzgebiet.« Kira sagte es ganz ruhig. »Da leben seltene Pflanzen und Tiere. Irgendwelche Libellen und so ’n Zeug.«
    »Weiß ich. Aber mein Vater sagt, zuerst kämen die Menschen, dann die Tiere.« Sandra hob die Schultern.
    »Und was ist nun?«
    »Wie meinst du das?«
    »Sehen wir uns nicht mehr?«
    Sandra sagte ziemlich lange nichts. Dann holte sie Luft und sah Kira direkt ins Gesicht.
    »Wir können uns vielleicht nicht mehr sehen, aber wir können uns sprechen.« Sandra zog mich aus der Tasche. »Hier!«
    »Was soll das denn?« Kira kapierte nicht.
    »Hier, schau!« Sandra drehte mich auf den Kopf und zeigte auf den Hohlraum in meinem Körper.
    »Und?« Kira schien immer noch nicht zu verstehen.
    »Wir können uns schreiben und die Briefe mit dem Nussknacker hin- und herschicken.«
    »Wie soll das denn gehen?«
    »Du kennst doch

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