Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
die Bushaltestelle neben der Kirche, oder?«, fragte Sandra.
Kira nickte.
»Wenn du da auf die Sitzbank steigst, kommt unter dem Dach ein Querbalken. Da kannst du den Nussknacker verstecken. Ich hole ihn dann ab, lese deinen Brief und schreib dir zurück, indem ich es genauso mache wie du. Ich verstecke den Nussknacker mit meinem Brief ebenfalls in der Bushaltestelle. So geht es dann hin und her zwischen uns.«
Ich fragte mich, wofür die beiden mich brauchten. Sie hätten die Briefe doch auch so verstecken können, oder? Dasschien sich auch Kira zu fragen. Doch ehe sie die Frage stellen konnte, lieferte Sandra schon eine Erklärung.
»Natürlich könnten wir die Briefe auch so hinlegen. Aber der Nussknacker merkt sich die Geschichten, den Inhalt, das Geschriebene, kapierst du?«
Ich sah, dass Kira Schwierigkeiten mit dem Verständnis hatte. Sie wollte es sich aber nicht anmerken lassen.
»Der Nussknacker ist unser Gedächtnis, verstehst du? In ihm wird alles festgehalten, jedes Wort, für alle Zeiten.«
Das hörte sich schön an. Und es schien Kira zu überzeugen.
»Abgemacht«, sagte sie.
* * *
Einen Tag später stand ich schon hinter dem Querbalken in der Bushaltestelle, einen Brief von Sandra im Leib. Als es dunkel wurde, kam Kira angeschlichen und holte mich aus dem Versteck. Ohne sich umzuschauen, ging sie nach Hause. Erst in ihrem Zimmer zog sie den Brief von Sandra aus mir heraus und las.
14. März
Liebe Kira,
du fehlst mir jetzt schon sehr. Erst wenn man etwas nicht mehr hat, merkt man, wie sehr es einem fehlt. Ich vermisse dich sehr. Wir haben heute unsere Mathearbeit zurückgekriegt. Ich wusste, dass es ziemlich bitter für mich werden würde, aber so bitter? Fünf minus! Mein Mathelehrer hat gesagt, wenn das so weitergeht, schaff ich die Vier auf keinen Fall. Mein Vater hat getobt! Ich wäre eine »faule Sau« – das hat er wirklich gesagt. Ich solle mich gefälligst anstrengen. Meine Mutter meinte, sie würden doch alles für mich tun, und ichwürde es auf so schändliche Art zurückzahlen. Ich sei nicht dumm, sagte sie, nur stinkfaul. Dann hat sie geweint. Das fand ich dann doch etwas übertrieben. Wegen Mathe weinen! Die haben doch keine Ahnung. Mathe ist echt ätzend. Ich habe keinen Bock darauf. In den anderen Fächern bin ich gut oder zumindest nicht schlecht, aber Mathe ist der Horror! Außerdem ist mein Mathelehrer ’ne Pfeife. Bei dem macht das Lernen keinen Spaß. Na ja, irgendwie werde ich mich schon durchs Schuljahr retten. Und nächstes Jahr krieg ich vielleicht ’nen anderen Lehrer. Einen, der jung ist und süß aussieht! (Grins!) Dann hab ich wieder Bock. (Doppelgrins!)
Küsschen, Sandy
15. März
Liebe Sandra,
ich vermisse dich auch. Aber ich glaube, das mit den versteckten Briefen ist eine gute Sache. So können wir uns alles mitteilen, was uns bewegt. Manchmal ist es auch einfacher zu schreiben, als etwas zu sagen. Papier ist geduldig. Geduldiger als Menschen.
Wir haben gestern geschlachtet. Das war ziemlich eklig. Deswegen esse ich ab jetzt auch kein Fleisch mehr, genau wie meine Mutter. Ich kann tote Tiere nicht anschauen. Ich muss dann immer daran denken, dass auch wir mal sterben müssen. Ich will aber noch viel erleben. Hier erlebe ich wenig. Nicht mal einen Fernseher gibt es bei uns. Mein Vater sagt, der ganze Müll, der gesendet wird, macht krank und verblödet einen. Aber so ganz sauber ist auch langweilig, oder? Ich langweile mich sehr oft. Ich habe immer das Gefühl, dass ich was verpasse. Dass ich nicht genug erlebe. Das Leben ist so kurz, da möchte man doch möglichst viel erfahren. Und ich erfahre nichts. Na, ja, zumindest nicht viel. Jeder Tag ist wie der andere. Ich würde auch gerne in die Schule gehen. Aber mein Vater sagt, er lässtdie Kinder nicht von einem unfähigen Schulsystem kaputt machen. Obwohl ich sagen muss, dass unser Privatlehrer gar nicht so übel ist. Und ganz anders als die an den Schulen. Unsere Fächer sind auch ganz anders. Zum Beispiel haben wir Tier- und Pflanzenkunde. Da sind wir dann meistens im Wald unterwegs.
In Russland wurde ein neuer Kanzler gewählt, oder wie sagen die da? Parteivorsitzender? Jedenfalls, er heißt Gorbatschow und hat ein lustiges Feuermal auf der Stirn. Ich finde, es sieht aus wie ein Tier. Meine Mutter meint, jetzt könnte es bald vorbei sein mit dem Wettrüsten, mit dem Kalten Krieg. Ich bin mir da nicht so sicher. Außerdem habe ich momentan andere Probleme.
Kuss, deine Kira
19. März
Liebe
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