Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
seinem Haken an der Angel hing – so, als wollte er sagen: »Was bist du denn für ein Klugscheißer?«
Dann stand er auf, holte mich vom Fensterbrett, betrachtete mich lange und eingehend und sagte schließlich, sodass ich seine Zahnlücke wie einen Spalt vor mir sehen konnte: »Bücher! Ich könnte es mit Büchern versuchen!« Es hörte sich an wie: »Manchmal ist es gut, einen Klugscheißer in der Nähe zu haben.«
Er drückte mir einen Kuss ins Gesicht, der nach Kochdünsten schmeckte.
Von da an sah ich Jerzy nur noch mit Büchern unter dem Arm. Er schenkte sie nicht nur Valeska. Er las sie auch selbst. Im Bett, an der Straßenbahnhaltestelle, auf dem Klo, sogar in der Küche hinter dem Herd. Es kam nicht selten vor, dass dabei etwas anbrannte, sodass zwar seine Anstellung gefährdet war, aber das Verhältnis zu Valeska immer besser wurde. Sie saßen jetzt öfters zusammen an der Straßenbahnhaltestelle und lasen. In letzter Zeit auch auffällig oft auf Jerzys Bett. Die Leidenschaft Valeskas für Jerzy schien entfacht. Außerdem hatte Valeska einen Narren an mir gefressen. Vielleicht merkte sie, dass ich nicht von hier stammte, sondern von weitweg, sodass ich ihre Sehnsucht nach der Ferne verkörperte. Diese Sehnsucht war ebenso groß wie ihre Leidenschaft für Bücher und neuerdings für Jerzy. Meistens las Valeska Bücher, in denen es um ferne Orte ging. Oder zumindest um das Reisen dorthin.
* * *
Als Journalisten und Schriftsteller, Gewerkschafter und Oppositionelle von dem komischen General mit der Sonnenbrille ins Gefängnis geworfen wurden, stellten sich viele ausländische Kollegen auf die Seite der Verhafteten. Einige von ihnen besuchten sogar das Land. Auch ein großer deutscher Schriftsteller hatte seinen Besuch in Danzig angekündigt, zusammen mit einem deutschen Gewerkschafter.
Das erzählte Valeska, die alle Bücher dieses Schriftstellers gelesen hatte, ganz aufgeregt Jerzy. Sie wollte den Schriftsteller unbedingt sehen und ihn bei einer Lesung aus seinen Werken hören. Tagelang redete sie von nichts anderem mehr, sodass Jerzy genervt wirkte und ein bisschen eifersüchtig wurde. Als Valeska sich sogar den Kopf darüber zerbrach, was sie dem Schriftsteller schenken könnte, platzte Jerzy der Kragen.
»Du musst ihm doch nichts schenken!«, sagte er bitter. »Der hat schon alles!«
»Ich will ihm ja auch kein Brotmesser oder Hauspantoffeln schenken«, erwiderte Valeska pikiert. »Ich dachte an irgendwas Symbolisches, das meine Dankbarkeit ausdrückt, dass er mich schon seit Jahren mit seinen Worten beschenkt. Verstehst du?«
Das klingt jetzt doch ein bisschen schwülstig , dachte ich. Jerzy verdrehte die Augen und schien Ähnliches zu denken.
Plötzlich blieb Valeska vor mir stehen und schaute michan, als würde sie mich zum ersten Mal sehen, obwohl wir seit Monaten einen guten Draht zueinander hatten. »Den hier, zum Beispiel.«
Damit war mein Schicksal besiegelt. Da Jerzy Valeska über alles liebte, konnte er ihre Bitte nicht abschlagen und überließ mich ihr.
* * *
Der Schriftsteller saß in einem verrauchten Hinterzimmer einer Kneipe in der Danziger Innenstadt und las schon seit einer Stunde aus seinen Büchern. Valeskas Wangen glühten wie ein Hochofen. Ihre Augen schlugen Funken wie ein Schweißgerät. Sie hing an den Lippen des Schriftstellers, als wären die ein Honigglas und sie die Fliege. Jerzy neben ihr kämpfte mit der Müdigkeit. Ich lag in Valeskas Schoß und roch das polnische Waschmittel, mit dem das Kleid kurz zuvor gewaschen worden war.
Dann brandete plötzlich Applaus auf. Jerzy schreckte hoch, und Valeska klatschte begeistert. Die Zuhörer erhoben sich von ihren Stühlen. Valeska hielt mich in der Hand und eilte nach vorne zum Podium, wo der Schriftsteller saß. Sie stotterte und schwafelte, noch immer mit glühenden Wangen, irgendetwas von Dank, Hochachtung und Bewunderung. Dabei reichte sie mich dem Schriftsteller.
Der sah mich an, als hätte er mich nicht von einem Fan bekommen, sondern von dem komischen General mit der Sonnenbrille. Er nickte ein, zwei Mal und presste »Danke« und »Reizend« aus sich heraus. Das war’s.
Ich hatte einen neuen Besitzer, der auf den ersten Blick nichts mit mir anzufangen wusste. Zusammen mit einem Papierstapelund einigen Büchern packte er mich in seine zerknautschte Ledermappe. Bevor er die Mappe schloss, sah ich noch Valeskas Enttäuschung und das müde Gesicht Jerzys, der neben ihr aufgetaucht war. Dann wurde es für
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