Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
längere Zeit dunkel um mich her.
1983 – 1985, Kreis Steinburg, Schleswig-Holstein, BRD
Es wurde erst wieder hell, als ich an einem Fenster mit Blick auf einen Walnussbaum stand. Vögel zwitscherten. Ein Hund bellte in der Ferne.
Der Schriftsteller saß vor mir an einem Schreibtisch. Er sah auf die Schreibmaschine mit dem eingespannten leeren Blatt Papier vor sich. Dann schaute er mich an. Anschließend aus dem Fenster. Dann wieder auf das Papier, auf mich und aus dem Fenster. So ging das eine ganze Weile. Ich konnte sehen, dass er sich Gedanken machte. Womöglich über mich.
Er stand immer wieder auf und ging im Zimmer herum, als suchte er etwas, setzte sich wieder an den Tisch, sah zum Fenster hinaus und dann wieder auf mich.
»Die Nussknackerin!«, sagte er plötzlich, als wäre es eine Eingebung. »Eine Räuberpistole, ein politischer Thriller!«
Noch einmal musterte er mich mit hypnotischem Blick. Dann legte er los.
Ich weiß nicht, wie lange er an seiner Schreibmaschine saß und in die Tasten hämmerte. Ziemlich lange auf jeden Fall. Der Walnussbaum vor dem Fenster verlor mehrmals die Blätter und bekam neue. Der Schriftsteller bekam einen immer dickeren Bart über der Oberlippe und ich immer größere Langeweile.
Bis der Schriftsteller schließlich »Fertig!« sagte. Es klang wie: »Jetzt reicht’s!«
Er zog das letzte vollgeschriebene Blatt aus der Schreibmaschine und legte es auf den Stapel zu den anderen Blättern, auf denen »Die Nussknackerin« stand.
Langsam und mit leiser Stimme, als wollte er dem Blatt nicht wehtun, las er laut das letzte Kapitel des Buches, sodass mir von der eintönigen Stimme ganz dusselig wurde.
G. erkannte ihn nicht sofort. Erst als er sich mit der Süddeutschen Zeitung unter dem Arm auf die Terrasse des Cafés an einen Bistrotisch setzte, ahnte er, das könnte er sein. Der Mann mit der dunklen Brille und dem hochgeschlagenen Mantelkragen schlug die Zeitung auf und las, den Kopf dahinter verborgen. G. erkannte die Titelüberschriften, die zum Beispiel vom Fund der Hitlertagebücher berichteten. Auch davon, dass ein unheilbarer Erreger immer weitere Kreise zog. Tödliche Seuche AIDS : Die rätselhafte Krankheit , stand auf der Titelseite der Zeitung. Dazu war ein Bild von einem HI-Virus abgebildet, das an einen Vollmond über einem Wellenmeer erinnerte. Als der Mann mit der dunklen Brille die Zeitung zusammenfaltete, aufstand und sich davonmachte, ohne dass er G. einen Blick zuwarf, stand auf dem Bistrotisch plötzlich eine Nussknackerin neben dem Espresso, den er sich bestellt hatte. Der Mann hatte den Espresso nicht angerührt. Zuerst überraschte G.der Anblick dieses seltsamen Stück Holzes. Dann schien G. plötzlich zu kapieren, dass der Mann die Nussknackerin in der Zeitung eingewickelt zum Tisch mitgebracht haben musste. G. bezahlte, griff nach der Nussknackerin und verschwand ebenfalls.
Erst als G. im Bus saß, sah er sich die Nussknackerin genauer an. Zuerst fiel ihm nichts auf. Dann bemerkte er das Loch, mit dem die Nussknackerin ausgehöhlt war. Das Loch war mit feinem Seidenpapier vollgestopft. G. pulte das Papier heraus und stieß auf einen kleinen Schlüssel mit einer Nummer. Eine Drei war auf einem Metallplättchen eingestanzt. Es war der Schlüssel eines Schließfachs. Schließfächer gab es nach G.s Wissen in diesem Ferienort nur im kleinen Busbahnhof.
Im Schließfach lag nichts. Es war vollkommen leer. G. wollte schon wieder die Tür schließen, als ihm plötzlich weit hinten im Fach ein fast unmerklicher Schimmer auffiel. Da hob sich etwas von dem blanken Blech ab. Ein Schriftzug, ein Wort. Er beugte sich tief in das Fach hinein. Sandra , stand da. Sandra? Was hatte das zu bedeuten? Ein Codewort? Ein Hinweis? Worauf ? Es war der Name seiner großen vergangenen Liebe. Sandra. Steckte sie hinter dieser ganzen Inszenierung? Für G. schien sich plötzlich der Nebel zu lichten. Sandra hätte das Bindeglied für alles sein können. Die Verbindung nach Polen, die Entdeckung der Tagebücher des größten Tyrannen der jüngeren Geschichte. Sandra!
G. stieg am Bahnhof in ein Taxi und fuhr zum Hafen. Als er den Fahrer näher betrachtete, bemerkte er, dass er eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem polnischen General hatte, dessen Brutalität sagenumwoben war. Auch der Fahrer schien das jetzt zu bemerken. Er griff mit der rechten Hand zum Beifahrersitz und richtete eine Makarov, eine russische Pistole, auf G. Ohne ein Wort zu sagen, drückte er ab. G.
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