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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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gegründet. Es stellte einundzwanzig Forderungen auf, die erfüllt werden mussten, damit die Arbeiter zurück in die Fabriken gingen. Die erste Forderung war die wichtigste: Zulassung der von der Partei und den Arbeitgebern unabhängigen freien Gewerkschaften. Die Forderungen gingen aber weit darüber hinaus. Es wurden Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle Bürger gefordert, Rede- und Pressefreiheit, die Freilassung politischer Gefangener und Streikrecht.
    Dem Streikkomitee schlossen sich fast siebenhundert Betriebe an, die binnen kurzer Zeit das ganze Land lahmlegten. In Polen ging gar nichts mehr. Was gut war für die Streikendenund ihre Forderungen. Tatsächlich wurde eine Einigung mit der kommunistischen Regierung getroffen und die Forderungen zum Teil erfüllt.
    Die Arbeit hätte also wieder aufgenommen werden können, aber so war es nicht. Mit der Parole »Für eure und unsere Freiheit« schienen die Arbeiter Blut geleckt zu haben. Am 17.  September 1980 wurde die Gründung der Gewerkschaft »Solidarnosc« durchgesetzt. Dann ging das normale Leben weiter. Auch für mich.
    * * *
    Ich fuhr mit Jerzy wieder auf der Ostsee herum. Nach Finnland, Estland, Litauen, Norwegen und in die Sowjetunion. Ein Jahr nonstop auf dem Meer, bis mir das Wasser zu den Ohren herauszukommen drohte. Ich hatte es satt, in der engen Küche zu stehen und Jerzy dabei zuzuschauen, wie er Zwiebeln klein schnitt und Kartoffeln schälte.
    Bin ich ’ne Küchenschabe, oder was? , fragte ich mich, während mir von den Kochdünsten ganz duselig wurde.
    Als wir im Dezember wieder in Danzig einliefen, war ich froh, dass sich endlich etwas änderte, denn Jerzy nahm mich mit von Bord. Auf den Straßen war wieder der Teufel los. Panzer fuhren auf. Soldaten marschierten durch die Gassen.
    Was ist denn hier los? , dachte ich noch, als ich in einem Fernseher einen seltsam aussehenden General mit Halbglatze und einer Brille sah, die fast so groß war wie sein ganzes Gesicht. Die Gläser waren dick wie Toastscheiben und dunkel getönt, sodass es aussah, als trüge der General eine Sonnenbrille (im Dezember!). Er saß vor einer rot-weißen Flagge an einem grünen Tisch, der aussah wie ein Billardtisch, und verkündete dasKriegsrecht. Der Typ nannte sich Jaruzelski und sah nicht nur wie eine Marionette aus, er sprach auch genauso. Wie bei einer programmierten Maschine holperten die Worte aus seinem Mund. Er trug eine rotzfarbene Uniform, an deren Jacke in Brusthöhe Orden prangten, die aussahen wie Karnevalsorden. Gruselig.
    Ist hier schon Fasching? Was ist das denn für ein Clown? , dachte ich. Oder ist das gar kein schlechter Witz? Macht dieser Clown vielleicht Ernst? Geht es hier womöglich um Leben und Tod?
    So war es tatsächlich, wie es sich kurze Zeit später herausstellte. Und ich war mal wieder dabei. Aber nicht mittendrin. Denn Jerzy beteiligte sich nicht an den Demonstrationen. Er interessierte sich nicht für Politik. Das Einzige, nach dem Jerzy der Sinn stand, war Kochen und Valeska. Nachdem er endgültig an Land gegangen war, arbeitete er in einer Bäckerei und Konditorei mit angeschlossener Gastwirtschaft. Da wohnte er in einem kleinen Zimmer, mit Toilette auf dem Hausflur. Valeska war Angestellte in derselben Bäckerei. Jerzy war ihr mit Haut und Haaren verfallen. Er tat alles, damit Valeska es merkte und sich für ihn interessierte. Wie alle anderen Angestellten der Bäckerei wohnte Valeska auf derselben Etage.
    Während auf den Straßen Danzigs Wasserwerfer und Schlägertrupps unterwegs waren und mich an längst vergangene und überwunden geglaubte Zeiten erinnerten, hatte Jerzy nur Augen für Valeska. Die wiederum hatte nur Augen für das Schöne und Wahre, nämlich die Literatur. Valeska las, wann immer sie konnte. Im Bett, an der Straßenbahnhaltestelle, auf dem Klo, sogar in der Bäckerei hinter dem Verkaufsschalter, sodass sie kaum einen Blick für Jerzy übrig hatte. Meistens saß er am Abend wie ein Häufchen Elend auf seinem Bett, rauftesich die Haare und verging beinahe vor Sehnsucht. Ich stand nicht weit entfernt am Fenster, durch das es wie Hechtsuppe zog, während draußen auf den Straßen der Teufel los war.
    »Was soll ich nur machen?«, jammerte Jerzy wie ein Kleinkind. »Valeska beachtet mich einfach nicht.«
    Lies ein Buch oder schenk ihr eins , dachte ich. Mach ihre Leidenschaft zu deiner. Dann wirst du ihre Leidenschaft für dich erwecken.
    Er sah vom Bett auf und blickte mich an wie damals, als ich an

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