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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was mancher Ausländer ertragen muss und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann. Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt, in unserer ›Demokratie‹. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.«
    Mein Vater sagt, der gehöre an die Wand gestellt. Der soll doch rübergehen, wenn es ihm hier nicht passt. Mein Vater kapiert nichts. Gar nichts.
    Gruß Sandra
    P.S.: Bist du in Marvin verliebt?
    2. November
    Liebe Sandra,
    bei uns war gestern eine Hausdurchsuchung. Eine Menge Polizisten waren da und haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Auch mein Zimmer haben sie auseinandergenommen. Sie habendeine Briefe gefunden, aber nicht mitgenommen. Was sie genau gesucht haben, weiß ich nicht. Ich glaube, irgendwelche Flugblätter und verbotene Zeitschriften. Gefunden haben sie aber nichts, obwohl sie einiges mitgenommen haben.
    Das Buch von Wallraff ist tatsächlich bei uns. Ich lese es, dann kann ich es dir geben. Klingt wirklich interessant. Vor allem hat dieser Typ offenbar einiges erlebt.
    Kuss, Kira
    P.S.: Ich weiß nicht, ob ich verliebt bin. Kann schon sein.
    Dann war wieder Sendepause. Fast den ganzen Winter lang. Ich fror mir hinter dem Querbalken den Hintern ab und dachte schon, sie hätten mich vergessen. Doch im neuen Jahr schienen sie sich dann wieder an mich zu erinnern und nahmen wieder Verbindung auf.
    30. Januar
    Liebe Kira,
    die challenger ist abgestürzt. Kurz nach dem Start ist die Rakete explodiert. Hast du das gesehen?
    Die Kälte setzt mir ziemlich zu. Der Schnee auch. Mir fehlt Wärme. Und dir?
    Deine Sandy
    5. Februar
    Liebe Sandy,
    wir sind auch ganz eingeschneit. Ich finde das ganz schön. Es ist irgendwie märchenhaft. Plötzlich wirkt alles so friedlich, so ruhig. So ganz anders.
    Deine Kira
    28. April
    Liebe Kira,
    gerade kam in den Nachrichten, dass es einen Atomunfall in der Sowjetunion gegeben hat. Anscheinend sind viele Menschen ums Leben gekommen. Es soll auch Radioaktivität ausgetreten sein. Genaues weiß man nicht. Mein Vater sagt, das sei weit weg, und so was könne bei uns nicht passieren. Ich bin mir da nicht so sicher. Was denkst du darüber?
    Gruß und Kuss, Sandy
    5. Mai
    Liebe Sandy,
    ja, das mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl habe ich auch gehört. Jetzt ist das eingetroffen, was niemand glauben wollte und was immer schon prophezeit wurde, zumindest von den AKW-Gegnern. Diese Dinger sind viel zu gefährlich, und das Risiko ist viel zu hoch. Die Radioaktivität breitet sich aus, ist in der Luft und wird auch zu uns kommen. Wenn der Wind in unsere Richtung weht, sind schlappe zweitausend Kilometer schnell überwunden. Dann ist das Zeug auch bei uns in der Luft. Und wenn es regnet, ist es auch im Boden. Ich darf nicht mehr raus. Mein Vater und die anderen haben unser angebautes Gemüse vernichtet. Sie sagen, es wäre verseucht. Ich weiß nicht, ob das nicht übertrieben ist. Jetzt sitze ich die meiste Zeit im Haus herum und langweile mich noch mehr.
    Kuss, ich drück dich, Kira
    10. Mai
    Liebe Kira,
    ich glaube, dein Vater hat recht. Es gibt jetzt Messungen, dass die Strahlenbelastung hier bei uns enorm gestiegen ist. Das Zeugkam also mit der Luft aus der Ukraine, aus Tschernobyl, und ist jetzt im Boden. Im Fernsehen kamen Warnungen, dass man keine Milch mehr trinken soll. Viele Spielplätze wurden gesperrt und verstrahlter Salat massenweise vernichtet. Mein Vater sagt, dass die alle bescheuert sind. Er zwingt mich, Milch zu trinken und Salat zu essen. Alles Ökospinner, sagt er. Er glaubt nicht, dass dieser Super-GAU bei uns hier Schäden anrichten kann. Ihn stört an der Katastrophe nur, dass deswegen Fußballspiele ausfallen.
    Wir haben einen neuen Biolehrer. Der ist ganz süß und noch ziemlich jung, er ist bei uns Referendar. Sein Unterricht ist ziemlich spannend, nicht so wie beim alten Herrn Fuchs. Wir dürfen viel zusammen und in Gruppenarbeit machen. Er hat jetzt auch den Lehrplanstoff einfach abgeändert. Wir reden nur noch über Tschernobyl, über Atomkraft, Radioaktivität und das ganze Zeug. Herr Reling heißt der Typ. Er ist sehr kritisch eingestellt. Ich glaube, er ist auch in der Anti-AKW-Bewegung. Er sagt es zwar nicht, aber ich merke es. Gestern haben wir mit einem Geigerzähler die Radioaktivität von Spinat gemessen, der bei uns

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