Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Büro. Er arbeitete in einem Verlag, in dem Bücher gemacht wurden. Da stand ich dann im Regal neben dem Schreibtisch und war der Blickfang für alle Angestellten, die ins Büro kamen.
»Was hast du denn mit dem vor, Torsten?«, fragte eine Frau im Kostüm mit hochgesteckten blonden Haaren und einer neckischen Brille auf der Nase. Sie zeigte lachend auf mich.
»Den nehme ich mit nach Leipzig.«
»Zur Buchmesse?« Es hörte sich überrascht an.
»Zur Buchmesse«, bestätigte Torsten und fügte hinzu: »Als Geschenk.«
»Für wen?« Die Frau schien neugierig zu sein.
»Geheimnis.« Torsten lächelte frech.
Die Frau lächelte nun ebenfalls. Es sah aus, als wüsste sie längst Bescheid.
»Die wird sich aber freuen«, sagte sie. Wobei Torsten das Lachen verging.
* * *
Als der Frühling vor der Tür stand, holte Torsten mich vom Regal und pustete mir ins Gesicht, da ich schon ein wenig Staub angesetzt hatte. Anschließend legte er mich auf den Beifahrersitz seines BMWs. Er packte einen Koffer und eine Tasche in den Kofferraum, küsste seine Frau und die zwei Kinder, sagte »Bis in einer Woche« und fuhr los.
Es war eine lange Fahrt von Konstanz nach Leipzig in die DDR. Mit der Zeit wurde sie auch langweilig. Nicht nur fürmich. Auch für Torsten. Ich nehme mal an, dass er deshalb auch nach dem Tanken an einer Autobahnraststätte einen jungen Tramper mitnahm, der nach Nürnberg wollte. Sie kamen schnell ins Gespräch. Als der junge Mann Torsten fragte, was er in Leipzig zu tun hätte, sagte der: »Ich besuche meine Freundin.«
Freundin? , ging es mir durch den Kopf. Ich dachte, der fährt zur Buchmesse.
Auch der junge Mann schien überrascht.
»Sie haben im Osten eine Freundin?«, fragte er, als wäre das ziemlich ungewöhnlich.
»Ja.« Torsten klang ein wenig stolz. »Im Osten eine Freundin und im Westen eine Frau.«
Er strahlte und schmunzelte dabei, als wäre das eine ganz besondere Heldentat.
Der junge Mann pfiff anerkennend und lächelte ebenfalls.
Mir kam das alles ziemlich merkwürdig vor.
»Und beide wissen nichts voneinander?«, fragte der Junge.
»Genau!«
Wieder pfiff der junge Mann und sagte: »Na, wenn das mal nicht rauskommt.«
»Solange die Mauer steht, besteht keine Gefahr.«
Jetzt lachten beide.
* * *
In der Nähe von Nürnberg stieg der junge Mann wieder aus. Wir fuhren bei Hof über den Grenzübergang in die DDR. Natürlich wurden wir von den Grenzposten genau kontrolliert. Torsten musste den Kofferraum öffnen. Sein Koffer und die Tasche wurden durchsucht. Auch unter dem Wagen wurde miteinem Spiegel nach Verdächtigem geschaut. Sogar ein Schäferhund machte sich schnüffelnd über die Polster im Wagen her, doch auch er konnte nichts finden. Ich schien dem Hund, wie auch den Grenzbeamten, völlig egal zu sein.
»Gute Reise.«
Wir fuhren weiter.
In den Abendstunden kamen wir endlich in Leipzig an. In der Innenstadt parkte Torsten den Wagen am Seitenstreifen einer Straße, stieg aus und war verschwunden.
Kaum war er weg, blieb ein vielleicht vierzehnjähriger Junge vor dem geparkten BMW stehen. Er sah verstohlen zum Seitenfenster herein. Ich bemerkte, wie er mich auf dem Beifahrersitz entdeckte. Der Junge schaute sich um. Dann griff er durch den geöffneten Schlitz des Seitenfensters ins Wageninnere, zog das Knöpfchen nach oben und öffnete die Tür. Blitzschnell griff er nach mir und ließ mich unter seinem Pullover verschwinden. Dann schloss er die Tür und verschwand.
1989, Leipzig, DDR
»Du hast was? « Die Frage kam von einem Jungen mit blonden Haaren und abstehenden Ohren.
»Geklaut!«, sagte ein anderer Junge. Er trug eine Brille, war ein paar Pfunde zu dick und hielt mich wie einen Fremdkörper in der Hand, einen Ziegelstein vielleicht.
»Spinnst du, Sandro!«
»Aus ’nem Westwagen«, sagte Sandro und lachte verschmitzt. Dabei wurde sein Gesicht ein bisschen rot.
»Aus ’nem Westwagen?« In der Stimme des blonden Jungen lag eine Mischung aus Verwunderung und Zweifel.
»Spreche ich so undeutlich, oder warum wiederholst du immer alles?«
»Hat dich jemand gesehen?«, fragte ein dritter, ziemlich dünner Junge, der ein wenig größer war als die beiden anderen.
»Nee«, sagte Sandro, noch immer vergnügt.
»Sicher?«
»Sicher, Maik!«
Maik schüttelte den Kopf. Er schien noch nicht ganz überzeugt.
»Aus ner Westkarre! Mensch, du hast sie ja nicht alle«, schaltete sich jetzt wieder der Blonde ein. »Wenn jemand dich dabei erwischt!«
»Hat aber niemand.«
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