Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
ein paar Stunden später leichter Schneefall einsetzte, war der Spuk vorbei. Es sah aus, als wäre nichts gewesen.
Nur ich lag noch immer im Rinnstein und spürte, wie es langsam kälter wurde, während der Schnee mich unter sich begrub.
»He, guck mal!«
»Was ist denn?«
»Da ist doch was.«
»Ja, ein verfaultes Stück Holz.«
»Quatsch, das ist … ist das nicht ein Nussknacker?«
»Das war vielleicht mal einer, jetzt ist er Schrott.«
Ein junger Mann griff nach mir und strich mir mit seinen Handschuhen übers Gesicht.
»Komm schon!«, rief die andere Stimme.
Der junge Mann steckte mich in seinen Parka, während die junge Frau noch immer quengelte.
»Mach jetzt endlich, wir müssen!«
Ich war gerettet!
Fürs Erste zumindest. Mal wieder.
1988, Konstanz, Bodensee, BRD
Nach fast einem Tag konnte ich den Rucksack, in den ich gesteckt worden war, wieder verlassen, worüber ich sehr froh war. Der Rucksack war nämlich nicht nur dunkel wie die Nacht, er war auch unbequem und vom Geruch her nicht meine erste Wahl. Es roch nach ungewaschener Wäsche. Nach Socken, Fuß- und Achselschweiß.
Der junge Mann zog mich heraus und warf mich achtlos auf einen Haufen anderer Gegenstände. Da blieb ich dann wieder ein paar Wochen liegen, ohne dass sich ernsthaft etwas tat.
Erst als vor dem Fenster dichter Schnee fiel, kam Leben in die Bude. Der junge Mann packte mich zusammen mit allen anderen Gegenständen – darunter eine Küchenwaage, Bücher und allerhand Spielzeug – in verschiedene Tüten und transportierte uns ab.
Wieder verschwand ich in der Dunkelheit, tauchte aber kurze Zeit später auf einem festlich beleuchteten Weihnachtsmarkt wieder auf.
Der junge Mann hatte dort einen Tapeziertisch aufgebaut. Er stellte alles aus den Tüten darauf ab. Auch mich. Ich roch Mandeln, gebratene Äpfel und Zuckerwatte. Ich hörte Weihnachtsmusik bis zum Abwinken. »Jingle Bells« bis der Arzt kommt.
Die Küchenwaage war verkauft, der Pürierstab ebenso. Auch viele andere Gegenstände um mich herum fanden neue Besitzer. Nur ich stand noch immer in der Kälte und wurde von den Weihnachtsliedern allmählich wirr im Kopf.
Bis ein Mann vor dem Stand stehen blieb und mich genau betrachtete.
»Ist der aus Holz?«, fragte er den jungen Burschen hinter dem Tapeziertisch.
»Klar.«
»Alt?«
»Weiß nicht, sieht zumindest so aus.«
»Wie alt ungefähr?« Der Mann zeigte sich hartnäckig.
»Hm, schätze mal fünfzig.«
Achtundachtzig, wollte ich sagen, und danke für das Kompliment. Ich hatte mich, wie es schien, wohl ganz gut gehalten, obgleich ich schon ziemlich ramponiert aussehen musste.
»Womöglich noch älter«, ergänzte der junge Mann hinter dem Tapeziertisch.
»Wo kommt er her?«
»Was Sie alles wissen wollen.« Der junge Mann schwankte zwischen Belustigung und Ärger. »Ich vermute mal, aus Österreich.«
Bayern, wenn schon, lag es mir auf der Zunge.
Der Mann griff nach mir und hielt mich dicht vor seine Augen, die mich durch dicke Brillengläser hindurch betrachteten.
»Der hat ja ein Loch.« Der Mann schien überrascht.
»Na und? Das ist die individuelle Note«, entgegnete der Verkäufer und wollte aus dem Makel gleich einen Vorzug machen.
»Sogar zwei.«
Der Mann zeigte zu meinen Füßen und steckte dabei einen Finger in den Hohlraum.
»Geheimversteck«, sagte der junge Verkäufer. »Da können Sie alles hineintun, was nicht gefunden werden soll.« Es klang vielversprechend. »Schmuggeln ist natürlich auch möglich.«
»Wie viel?« Der Mann mit der Brille stellte mich wieder zurück auf den Tisch.
»Zwanzig Mark«, kam wie aus der Pistole geschossen aus dem Mund des Verkäufers.
»Zehn.«
»Achtzehn.«
»Zwölf.«
Ich werd verrückt , dachte ich, jetzt schachern die beiden auch noch wie auf einem türkischen Basar . Bei fünfzehn Mark einigten sie sich schließlich. Der Mann mit der Brille steckte mich in seine Manteltasche und verschwand.
Ich rechnete fest damit, dass er mich seinem Sohn oder seiner Tochter zu Weihnachten schenken würde. Aber nichts da. Er hatte zwar eine Tochter, auch einen Sohn, beide um die zehn Jahre alt, aber er schenkte mich keinem von beiden. Er schien mich sogar vor ihnen zu verstecken. Ich verbrachte die Bescherung hinter seinen Büchern im Regal im Arbeitszimmer, während das Weihnachtsfest im Wohnzimmer stattfand. Nur ab und an hörte ich Stimmen, Musik und andere festliche Geräusche.
* * *
Als die Feiertage vorbei waren, nahm der Mann mich mit in sein
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