Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Sandro grinste übers ganze Gesicht.
»Zum Glück!« Maik griff nach mir und nahm mich Sandro aus der Hand. »Schönes Teil, stimmt’s, Mario?«
Der dritte Junge, der Blonde, hieß also Mario. Alle drei waren ungefähr gleich alt und doch ganz unterschiedlich.
»Und was willst du jetzt damit machen?«, fragte Mario, der mich nun ebenfalls kurz in der Hand wiegte.
»Keine Ahnung.«
Ich glaub, ich spinne , dachte ich. Der Typ klaut mich einfach aus dem Wagen und weiß nicht mal, was er mit mir anfangen soll.
»Ich glaube, ich lass ihn erst mal hier.« Sandro zeigte mit einer weit ausholenden Armbewegung um sich.
Wir standen auf dem Flachdach eines vielleicht fünfstöckigen Hauses. Um uns herum waren ähnliche Häuser mit ähnlichen Flachdächern. Mehrere Kamine befanden sich auf dem Dach. Dazu gespannte Seile für Wäsche, eine Teppichklopfstange, ein Taubenschlag, in dem hinter Gitterdraht jede Menge Tauben vor sich hin gurrten, ein paar Regentonnen und ein kleiner Schuppen, eher ein Verschlag, der aus alten Türen zusammengezimmert war.
Während ich mir das alles genau betrachtete, war von unten, von der Straße her, plötzlich Lärm zu hören.
»Was ist denn da los?«, fragte Sandro, während die beiden anderen sich schon an den Dachrand herangepirscht hatten.
Alle drei streckten die Köpfe über den Rand und schauten nach unten.
»Die demonstrieren mal wieder«, sagte Mario. »Wie die ganzen Wochen schon.«
»Hä?« Sandro hatte offenbar Schwierigkeiten, das Spektakel auf der Straße zu begreifen. »Was geht denn hier ab?«
»Das ist wohl völlig an dir vorbeigegangen, was?« Maik tippte sich an die Stirn.
»Mein Vater ist auch dabei.« Mario zeigte über den Dachrand nach unten, als könnte er seinen Vater tatsächlich aus der Entfernung sehen. »Die demonstrieren für die Freiheit.«
»Für die Reisefreiheit«, konkretisierte Maik.
»Für Bananen! und für Videorekorder«, sagte Sandro, der in der Gruppe offenbar die Rolle des Spaßvogels hatte. Alle drei lachten, zogen wieder die Köpfe ein und kehrten zurück neben den Taubenschlag.
»Ich würde gerne mal in den Süden«, sagte Maik. »Italien vielleicht. Ans Meer.«
»Du kannst doch an die Ostsee.«
»War ich schon«, sagte Maik.
»Oder ans Schwarze Meer.«
»Auch schon.«
Sandro blies die Backen auf und stieß einen Schwall Luft aus.
»Aber am Atlantik war ich noch nicht.« Er klang bei Maik wie ein Vorwurf. »Ist auch schwer möglich.«
Mario lachte. »Stimmt!«
»Das ist ein Traum.«
»Vati sagt, bald kann der Traum Wirklichkeit werden.« Mario hörte sich ganz feierlich an.
Sandro lachte. »Dein Alter spinnt!«
»He, sag noch mal, dass mein Vater spinnt.«
»Hört auf«, versuchte Maik dazwischenzugehen.
»Wir können nicht mal nach Nürnberg fahren und das sind kaum zweihundert Kilometer.« Sandro dachte nicht daran, aufzuhören. Im Gegenteil. »Also, wie soll das dann bis zum Atlantik gehen, he?«
»Keine Ahnung«, kam es ein wenig eingeschüchtert von Mario.
»Also spinnt er!« Sandro ließ nicht locker. »Wenn er so was behauptet, spinnt er!«
Das konnte Mario nicht auf sich sitzen lassen. Er sprang auf Sandro zu, versetzte ihm einen Schlag und riss ihn um.
Maik rief: »Hört auf, ihr Blödmänner!«
Sandro und Mario wälzten sich am Boden, bis Maik aus einer der großen Regentonnen, die neben dem Taubenschlag standen, einen Eimer voll Wasser holte und ihn auf die beiden Raufenden kippte.
Augenblicklich war die Prügelei beendet. Die zwei standen auf, schüttelten sich und gingen dann gemeinsam auf Maik los. Nun wälzten sich alle drei auf dem Boden. So lange, bis Sandro plötzlich »Da kommt jemand!« rief.
Die Jungs verharrten. Sie horchten und hörten tatsächlich auf der Dachbodentreppe schleppende Schritte.
»Nichts wie weg«, flüsterte Mario.
Die drei versteckten sich hinter dem Taubenschlag. Sie kauerten neben den Futterfässern für die Tauben, die jetzt ganz aufgeregt gurrten.
Die Tür zum Dach ging auf, und eine dicke Frau mit einer Kittelschürze war zu sehen.
»Die Krumbiegel!«, flüsterte Sandro ganz leise. Die anderen zwei verzogen das Gesicht, als hätte das nichts Gutes zu bedeuten.
Die Haare von Frau Krumbiegel waren hochgesteckt, wobei sich ein paar Strähnen gelockert hatten und ihr ins Gesicht fielen. Sie hatte sich einen geflochtenen Wäschekorb voller feuchter Sachen unter den Arm geklemmt. Dann hängte sie die Kleidungsstücke an den Leinen auf, die quer über das Dach gespannt
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