Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
in den Schlag hüpfen.
Zwei Tage später ließ er Guzzilein tatsächlich fliegen. Vorher band er ihr aber noch einen kleinen, zusammengerollten Zettel ans Bein. Dann küsste er die Taube noch einmal und warf sie hoch in die Luft. Guzzilein flatterte ganz aufgeregt, bis sie schließlich im Leipziger Himmel verschwand.
* * *
An irgendeinem Nachmittag tauchte plötzlich der junge Mann von gegenüber, der beschattet wurde, auf dem Dach auf.
Was will der denn hier? , dachte ich.
Zuerst stand er nur dumm bei den Tauben herum und machte: »Gurr, gurr, gurr.« So lange, bis plötzlich weitere Schritte auf der Treppe zu hören waren. Er duckte sich und verbarg sich hinter einer der Regentonnen am Taubenschlag.
»Steffen?«, sagte eine Stimme.
Der junge Mann streckte den Kopf hinter der Regentonne hervor.
»Hallo, Olli.«
Vor ihm stand ein weiterer junger Mann. Beide waren ungefähr gleich alt.
»Was soll das? Was soll ich hier?«, fragte Steffen.
Olli wurde ein wenig verlegen, druckste herum und sagte: »Du hättest es mir ansonsten nicht geglaubt.«
»Was geglaubt?« Steffen schien nicht gerade bester Laune zu sein.
Olli zeigte auf die andere Straßenseite und zu den Fenstern, hinter denen Steffen wohnte.
»Da wohn ich«, sagte Steffen. »Na und?«
Er klang mürrisch. Vermutlich, weil er genauso wenig wie ich begriff, was das alles sollte und was Olli eigentlich vorhatte.
»Ich wollte es nicht.«
»Was wolltest du nicht?« Steffens Laune schien immer schlechter zu werden.
»Ich habe es aus Liebe getan.«
»Was? Verdammt noch mal, Olli!«
»Deine Wohnung wird abgehört.« Olli sagte es so leise, dass es kaum zu hören war.
»Was?«, stieß Steffen fassungslos hervor. »Woher weißt du das?«
»Ich … ich habe…«
»Was hast du?«, ging Steffen dazwischen.
»Dich verraten.«
Zuerst lachte Steffen, als wäre es ein Witz. Ein ziemlich guter Witz.
Doch als Olli wiederholte: »Ich habe dich verraten, Steffen!«, verstummte das Gelächter. Der Witz war kein Witz, sondern bitterer Ernst.
»Du hast mich verraten?« Steffen wollte es noch immer nicht glauben.
»Ja, an die Staatssicherheit.«
Steffen schlug sich an die Stirn. »Sag mal …«
»Ich bin selbst IM«, sagte Olli.
»Du bist …«
»Ja.«
»Und ich liebe dich.« Es klang aufrichtig. Aber auch verzweifelt.
Steffen schien für diese Liebe nicht empfänglich.
»Du Mistkerl!«, brüllte er. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer bösen Fratze. Er ging einen Schritt auf Olli zu. Der warf sich ihm an den Hals und versuchte umständlich, ihn zu küssen. Steffen stieß ihn weg und schlug auf ihn ein.
»Steffen, ich liebe dich doch!«, schrie Olli, während seine Nase zu bluten anfing. Er klammerte sich an Steffen fest. Der stieß ihn zu Boden und trat ihm mehrmals in den Bauch.
»Du spinnst ja!«, rief er. »Du hast sie nicht alle!«
Plötzlich schien sich auch Ollis Gefühlslage zu ändern.
»Das wirst du bereuen!«, rief er. »Wenn du meine Liebe nicht willst, kriegst du meinen Hass!« Es klang ein wenig pathetisch.
»Lass mich in Ruhe!«
»Ich mach dich fertig.« Ollis Gesicht mit der blutenden Nase war nun zu einer gefährlichen Grimasse verzerrt.
»Halt’s Maul, du Idiot.«
Steffen verschwand und ließ die Tür zum Dach mit einem lauten Knall zufallen.
Als er weg war, fing Olli an zu weinen. Es schien, als wollte er nicht mehr aufhören. Dann bemerkte er mich.
»Was guckst du denn so blöd?«
Seine Trauer schlug in Wut um und entlud sich an mir. Er versetzte mir einen Tritt. Ich flog durch die Luft und prallte zum Glück gegen eines der aufgehängten, feuchten Bettlaken. Sonst wäre ich wahrscheinlich über das Dach hinaus gesegelt. Ich fiel zu Boden und überstand den Sturz unbeschadet. Olli kümmerte sich nicht mehr um mich. Er trat mehrmals gegen die Regentonne. Dann gegen den Taubenschlag, dass die Tauben aufgeregt gurrten. Schließlich verschwand er.
Noch bevor es dunkel wurde und der Stasispitzel wieder seine Beobachtungen aufnahm, landete eine Taube auf dem Dach des Taubenschlags. Es war die weiße Taube mit dem schwarzen Fleck. Guzzilein.
Zurück aus dem Westen , dachte ich. Bestimmt mit einer Nachricht von Ruth.
Die Taube rührte sich nicht von der Stelle, bis endlich, als es schon dunkel war, der Taubenzüchter auf dem Dach erschien. Als er Guzzilein sah, fing er beinahe zu weinen an. Er nahm seine Taube in Empfang, als wäre sie nach langer, weiter Reise endlich wieder daheim, und das war sie ja auch. Bevor er sie
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