Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
gelegentlich um die Ecke schaute, kurz »Tag allesamt!« sagte und wieder verschwand, wahrscheinlich zum Dichten, denn davon muss ein Dichter ja leben.
Neben Else, Martha, Emilie, Leo, mir und dem Dichter gab es aber noch eine Menge anderer Leute in dem Haus. Auch zwei Hunde, die sich nicht ausstehen konnten, und eine Menge Katzen, mit denen aber niemand etwas zu tun haben wollte. Viele Besucher kamen wie wir aus Berlin, andere kamen aus anderen Teilen des Landes. Ein Mädchen, es hieß Kato und war ungefähr so alt wie Emilie, kam aus dem Ruhrgebiet. Es war mit seinem Onkel, einem sehr bekannten Maler, wie es hieß, hier im urlaub. Der Maler, der einen beigefarbenen, luftigen Leinenanzug trug und immer einen großen Strohhut auf dem Kopf hatte, stand die meiste Zeit im Garten vor einer Staffelei und pinselte vor sich hin, während das Mädchen in einem Liegestuhl in der Sonne lag und ein Stöckchen in die Luft warf, um das sich dann die beiden Hunde zankten.
Ich glaube, Leo langweilte sich anfangs ziemlich auf der Insel. Er stritt sich ständig mit seiner Mutter oder mit Martha. Wenn nicht, dann mit Emilie. Meistens ging er alleine, ohne mich, am Wasser spazieren.
Nach drei Tage legte Leo sich dann ebenfalls in einen Liegestuhl, nicht weit von dem Mädchen entfernt, und warf einen Stock in die Luft. Und traf den Maler. Der fluchte alle Heiligenvom Himmel und suchte nach dem Schuldigen, fand ihn aber nicht. Denn Leo stellte sich schlafend, und Kato grinste in sich hinein.
»Danke!«, sagte Leo, nachdem der Maler wieder vor seiner Leinwand stand.
»Geschieht ihm recht«, erwiderte Kato. »Wer den ganzen Tag auf eine Leinwand pinselt, muss sich nicht wundern, wenn ihm ein Holzstock auf den Kopf fällt.«
Sie lächelte wieder.
»Gehen wir an den Strand?«, fragte Leo.
»Meinetwegen!«
Beide sprangen von ihren Liegestühlen auf und gingen davon. Emilie stand auf der Terrasse neben mir und sah den beiden hinterher.
* * *
Es wurde in den Tagen auf Hiddensee viel getrunken, gegrillt und nackt am Strand auf und ab spaziert. Obwohl die meisten Leute sich gar nicht richtig kannten, schien niemand Hemmungen zu haben, die Hüllen fallen zu lassen. Mir war es ein wenig unangenehm. All die nackten Frauen und Männer spielten Volleyball oder Federball und schwammen im Meer. Manche lagen einfach nur am Strand und sonnten sich, sodass sie nach ein paar Tagen so braun waren wie Brotrinden. Nur ich blieb gelb und meistens im Schatten.
Leo bekam ich die nächsten Tage kaum mehr zu Gesicht. Kato auch nicht. Die beiden schienen ständig auf der Insel unterwegs zu sein. Das passte mir nicht, und auch Emilie schien etwas dagegen zu haben. Sie wurde eifersüchtig. Wenn ich ehrlich sein soll, ich auch.
* * *
»Jetzt reicht’s!«, sagte Emilie, als die beiden sich wieder einmal kurz nach dem Essen davongemacht hatten.
Sie feuerte ihr Buch in die Ecke, nahm mich in die Hand und sagte: »Komm mit!«
Wir marschierten los. Leo und Kato waren wieder einmal unterwegs zum Strand. Wir schlichen ihnen hinterher, in sicherem Abstand und immer hinter Sanddornhecken Schutz suchend.
Das Meer rauschte. Die Wellen schlugen in gleich bleibendem Takt gegen die Mole.
Kato und Leo setzten sich an den Strand. Sie streckten die Beine ins Wasser und schauten aufs Meer, das funkelte, als würden Diamanten darin schwimmen. Wir lagen keine fünf Meter von den beiden entfernt hinter einem Felsen und spitzten die Ohren.
»Ich glaube, Emilie ist verliebt in dich«, sagte Kato.
Emilie wurde rot und tippte sich dabei so wenig überzeugend an die Stirn, dass ich sofort wusste, Kato hatte recht.
»Glaub ich nicht«, entgegnete Leo ein bisschen verlegen. »Sie beachtet mich doch kaum.«
»Alles Masche!«
»Glaubst du?«
»Bestimmt.«
Sie warfen Muscheln ins Wasser, dass es platschte.
»Besuchst du mich mal?«
»In Köln?«
»Warum nicht?«
»Und du mich?«
»In Berlin?«
»Warum nicht?«
Beide kicherten.
Oho, das klingt ganz wie das Geplänkel von Verliebten , dachte ich. Womöglich hatte Emilie tatsächlich allen Grund zur Eifersucht. Und ich erst recht.
»Ich mag dich irgendwie«, sagte Kato nach einer längeren Pause des Schweigens.
Die geht aber ran! , dachte ich.
Leo wurde rot, und Emilie wurde zusehends unruhiger neben mir.
»Und wie?«
»Weiß nicht, ich finde dich sympathisch.«
Dann schwiegen sie wieder. Bis Kato schließlich Leo auf die Wange küsste, aufsprang und davonrannte.
»He, wo willst du hin?«
»Nach
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