Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
von ihren Büchern loszureißen und für etwas anderes zu begeistern, vor allem für sich.
Je mehr Leo sich für Emilie interessierte, umso mehr verlor er das Interesse an mir. Mit Emilie konnte ich jetzt nicht mehr konkurrieren. Was ist schon ein alter gelber Nussknacker gegen eine junge Dame mit schicker Kurzhaarfrisur? Nichts. Jedenfalls nicht viel. Trotzdem nahm Leo mich mit an die Ostsee.
1929, Hiddensee, Deutschland
Leo saß neben Else, Martha und Emilie im Zug und blätterte in einem Buch, das er nur Emilie zuliebe las. Ich stand am Fenster und schaute auf die vorbeiziehende Landschaft. Es war der Sommer 1929. Das behauptete zumindest der Kalender, der neben den Garderobenständern im Romanischen Café hing. Alles blühte. Die Kornfelder waren goldgelb wie ich, die Sonnenblumenfelder sogar noch gelber, und die Kleewiesen zeigten ein sattes Grün.
»Mecklenburg!«, sagte Else.
»Schön!« Martha zog an ihrer Zigarettenspitze.
Emilie machte: »Hm!«
Leo sagte nichts, schaute nicht einmal von seinem Buch auf.
Wir fuhren an Seen vorbei, deren Wasser so klar war, dass man fast bis auf den Grund blicken konnte. Es gab kaum Häuser, nur Natur. Auch der Himmel ließ sich nicht lumpen. Er strahlte in einem so hellen Blau, dass mir beinahe die Augendavon schmerzten. Die Natur hatte sich besonders hübsch herausgeputzt, als wollte sie den Großstädtern aus der Reichshauptstadt Berlin mal so richtig zeigen, was in ihr steckt. Kein Hügel war weit und breit zu sehen. Kein Berg, der den Blick begrenzte.
Ich sah bis zum Horizont, auf den wir geradewegs zufuhren. Else öffnete das Fenster, und ein Duft schlich sich durch den Spalt, der mir beinahe die Sinne raubte. Die Landschaft roch noch wundervoller, als sie aussah. Es war ein betörender Duft nach Wiesen, Blumen und frisch gemähtem Gras. Und nach Meer. Ja, es roch jetzt nach Meer. Und ein klein wenig nach Misthaufen.
»Die Ostsee!«, sagte Else.
»Ja!«, sagte Martha.
Emilie sagte wieder: »Hm!«
Nur Leo starrte unbeeindruckt in sein Buch.
Seltsam , dachte ich. Seit wann faszinieren Leo ein paar vollgeschriebene Seiten?
Auf einmal schüttelte er ungläubig den Kopf, hob den Blick und sagte erstaunt: »Hör dir das mal an!« Er meinte natürlich mich. Dann fing er leise an zu lesen: »Also, meine Herrschaften, das hier ist Emil. Dort drüben sitzt der Schweinehund, der ihm das Geld geklaut hat. Der rechts an der Kante, mit der schwarzen Melone auf dem Dach. Dann wurde ihm der Reihe nach die ganze Bande vorgestellt.«
Er blickte wieder kurz vom Buch auf und sah mich an. Sein Gesicht sah aus wie ein Fragezeichen. Emilie spitzte die Ohren.
»Wir werden ganz einfach die Gelegenheit abpassen und ihm das Geld, das er geklaut hat, wieder klauen!«, las Leo weiter. »Die Parole hieß Emil. Das war leicht zu merken.«
Jetzt war Leos Gesicht ein Ausrufezeichen.
Das gibt’s doch nicht , dachte ich. Das klingt doch wie …
»Das ist unsere Geschichte!«, sagte Leo. Tatsächlich stimmte das Gelesene und Geschriebene mit dem überein, was Leo, Emilie und ich vor ein paar Jahren erlebt hatten. Nacheinander schaute er Emilie, Martha, Else und mich an. »Dieser Kerl hat unsere Geschichte aufgeschrieben!«
Emilie riss ihm das Buch aus der Hand, ließ den Blick flink über die Seiten huschen und sagte: »Tatsächlich, geklaut! Frisch geklaut! Hier steht’s, das Buch ist erst vor ein paar Wochen erschienen.«
»Kästner!«, sagte Leo. »Der Schriftsteller heißt Erich Kästner.«
»Erich!«, rief Else verwundert. »Das ist doch der kleine hübsche Mann, der im Romanischen Café immer am Tisch am Eingang sitzt! Erinnert ihr euch?«
Martha nickte und strahlte, als ob der kleine hübsche Mann jetzt ihr gegenübersitzen würde. Emilie und Leo schüttelten den Kopf.
»Da siehst du mal, Leonhard«, sagte Else. »Große Schriftsteller erfinden das, was andere erst mühsam erleben müssen.«
Und große, kleine hübsche Männer erst recht , dachte ich.
Martha strahlte wieder. Elses Worte klangen wie ein gut gemeinter Ratschlag, wie eine Gebrauchsanweisung. Ich wusste nicht genau, worauf sie hinauswollte. Leo anscheinend auch nicht.
»Wäre das nichts für dich?«
»Was?«, fragte Leo. »Schriftsteller?«
Seine Mutter nickte. Emilie kicherte. Martha fragte sich, worüber.
»Bloß nicht!«, sagte Leo. »Selbst erleben ist viel spannender als aufschreiben!«
* * *
Auf Hiddensee wohnten wir in einem großen Haus, das einem berühmten Dichter gehörte, der
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