Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
mit einer Mischung aus Verwunderung und einem bisschen Neid. Woraufhin Leo heftig mit dem erhitzten, schwärmerischen Kopf nickte.
Doch keiner der Jungs, die nachts von Fräulein Niermeyer träumten, hatte eine Chance. Nicht nur, weil sie noch zu jung und Fräulein Niermeyer viel älter war. Ältere Jungs – sogar so alte Knacker wie Dr. Gäbler, der ebenfalls ein Auge auf das Fräulein geworfen hatte –, gingen ebenfalls leer aus. Fräulein Niermeyer stand nämlich nicht auf Männer, sondern auf Frauen. Das war zu dieser Zeit nichts Außergewöhnliches mehr. Was vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen war, wurdejetzt zur Normalität. Frauen trugen nicht nur Röcke bis zum Knie, rauchten und gingen alleine aus, sie liebten manchmal auch Frauen. Manchmal auch Männer und Frauen. Manchmal auch niemanden, höchstens ihren Beruf.
Natürlich war das vielen, vor allem Männern, ein Dorn im Auge. Auch Dr. Gäbler und dem Rektor der Schule. Fräulein Niermeyer bekam das öfters zu spüren. Das waren die einzigen Male, in denen sie nicht strahlend in die Klasse kam.
Und dann kam sie gar nicht mehr. Erst ein Jahr später erfuhr Leo, als er sie zufällig im Romanischen Café traf, warum sie so plötzlich verschwunden war.
»Gäbler hat mich auf dem Schulhof bedrängt«, erzählte Fräulein Niermeyer. »Er wollte unbedingt, dass ich seine Freundin werde. Er packte mich an den Schultern und wollte mich küssen.«
Leo verzog angewidert das Gesicht.
»Ich habe ihm mit dem Fuß einfach sein Holzbein weggetreten, sodass er auf den Hintern geplumpst ist. ›Das wirst du mir büßen‹, rief er mir nach. Am nächsten Tag hatte ich das Kündigungsschreiben im Brief kasten. Darin stand, ich hätte Dr. Gäbler belästigt.«
Am nächsten Tag wusste die ganze Schule Bescheid, und Dr. Gäbler war von nun an das Gespött aller Schüler.
* * *
Kurz nachdem Else sich Dr. Gäbler vorgeknöpft hatte, wurde sie krank. Ob da ein Zusammenhang bestand? Keine Ahnung. Auf jeden Fall saß sie nicht mehr im Romanischen Café, wie sonst immer. Sie lag im Hotel Kaiser im Bett, hustete undspuckte gelben Schleim in eine Emailleschüssel, die auf dem Nachttisch stand. Leo ging sogar ein paar Tage nicht in die Schule, kochte Tee und besorgte in der Apotheke Arzneien, die Doktor Rosenthal verschrieb, ein Freund von Else. Sie wurde aber nicht gesund, im Gegenteil. Von Tag zu Tag ging es ihr schlechter.
Auch Martha und Emilie saßen jetzt oft am Krankenbett. Sie wischten Else den Schweiß von der Stirn, machten ihr kalte umschläge oder hielten ihr die Schnabeltasse an den Mund, aus der sie nur ganz kleine Schlucke trinken konnte. Als Else schließlich so schwach war, dass sie nicht mehr aufstehen konnte, stellte Dr. Rosenthal sie mit energischer Stimme vor die Entscheidung, sich entweder sofort ins Krankenhaus einweisen zu lassen oder ein Medikament auszuprobieren, das vor Kurzem ein englischer Wissenschaftler namens Alexander Fleming erfunden hatte. Else hasste Krankenhäuser und entschied sich für Penicillin, so hieß das Wundermittel. Schon nach zwei Tagen ging es ihr besser. Das Fieber ging zurück. Sie schwitzte kaum noch und ging auch schon wieder mit kleinen Schritten im Zimmer herum, gestützt von Leo. Zwei Wochen später war sie fast schon wieder die Alte.
»Wenn du dich noch ein paar Wochen an der guten Meeresluft aufhältst, ist alles wieder so, wie es war«, sagte Dr. Rosenthal.
»Meeresluft?«, fragte Else. »Du meinst die Ostsee?«
Rosenthal nickte.
»Wollt ihr an die Ostsee?«, rief Else in die Runde.
»Ja!«, hallte es aus der Runde zurück. Die Runde, das waren Leo, Martha und Emilie.
Kurze Zeit später wurden die Koffer gepackt.
* * *
Je älter Leo wurde, umso weniger schien Emilie ihn zu nerven. Anfangs fiel es mir gar nicht auf. Erst als er fragte, ob sie nicht zusammen ins Kino gehen wollten, dachte ich: Was ist denn in den gefahren?
»Was läuft denn?«, fragte Emilie, wobei sie gelangweilt von ihrem Buch aufsah.
» Metropolis von Fritz Lang!«
Leo sagte es so begeistert, als wäre Metropolis ein ferner Planet, Fritz Lang eine Rakete, und er und Emilie hätten die einmalige Möglichkeit, zusammen eine sensationelle Reise zu unternehmen.
Mit »Keine Lust!« stoppte Emilie Leos Höhenflug und versank wieder in ihrem Buch.
Natürlich war Leo enttäuscht, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Was ihm aber nicht gelang. Auch er ging jetzt nicht in Metropolis . Trotzdem probierte er immer wieder, Emilie
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