Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
ein Mann vor dem Schaufenster stehen, entdeckte mich, trat ganz nahe an das Fenster heran und ließmich nicht mehr aus den Augen. Auch ich betrachtete ihn ganz genau. Er war vornehm, aber auch seltsam gekleidet. Er trug einen schwarzen Anzug aus feinem, glänzendem Stoff und einen Mantel über dem Arm. Auf dem Kopf trug er eine Melone. Ein vornehmer Herr, das sah ich sofort. Er kam in den Laden. Die Glocke an der Tür bimmelte.
Der Trödler fragte: »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?«
»Der Nussknacker im Schaufenster würde mich interessieren.«
»Der Nussknacker?«, fragte der Trödler, als hätte er mich längst vergessen.
»Ja. Was soll er denn kosten?«
»Nicht viel, weil … na ja, Sie müssen wissen, der Nussknacker ist kein richtiger Nussknacker.«
»Ach! Was dann?« Der Mann war erstaunt.
»Nun ja, wie soll ich sagen …«
Nun sag schon , dachte ich und war ähnlich gespannt wie der Mann mit dem Hut.
»Es ist ein Nussknacker, der keine Nüsse knacken kann.«
»Das ist ja wie ein Auto, das nicht fährt!«, sagte der Mann und lachte.
Der Trödler nickte.
»Oder ein Hund, der nicht bellt.«
Wieder nickte der Trödler.
Oder ein Mann mit Melone, der dummes Zeug redet , dachte ich.
»Na ja, eigentlich brauche ich keinen Hund, der nicht bellt. Auch kein Auto, das nicht fährt. Aber einen Nussknacker, der keine Nüsse knackt, den kann ich gut gebrauchen.«
Der Trödler schien nicht zu kapieren. Er strahlte trotzdem vorsorglich.
»Ich nehme ihn!«, sagte der Mann mit der Melone.
»Aber … wofür brauchen Sie denn einen Nussknacker, der keine Nüsse knackt?«, wollte der Trödler wissen und holte mich aus dem Schaufenster.
»Als Trophäe! Als Pokal, verstehen Sie?«
Der Trödler nickte, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, wovon der Mann sprach. Er pustete mir mehrmals ins Gesicht und staubte mich ab. Dann nahm er ein Filztuch, spuckte ein paar Mal auf meinen Mantel, die Schuhe und meine Mütze und polierte, was das Zeug hielt. Das Filztuch kitzelte meinen Wanst, sodass ich kichern musste. Obwohl das, was jetzt kommen sollte, alles andere als lustig war.
Nach ein paar Minuten glänzte ich, als wären die Farben gerade erst getrocknet.
»Sehr schön!« Der Mann strahlte ebenso wie ich. »Wirklich sehr schön! Wenn Sie mir das Prachtexemplar noch einpacken könnten.«
Der Trödler wickelte mich in weiches Seidenpapier und legte mich in eine nach Möbelpolitur riechende Schachtel. Als Letztes sah ich, wie er winkend an seinem Verkaufstresen stand und fast lautlos »Gute Reise« flüsterte.
Dann wurde der Deckel geschlossen, und alles war dunkel. Der Mann bezahlte einen fürstlichen Preis und verschwand.
Mit ihm verschwand auch ich.
1932 – 1938, Berlin, Deutschland
Auf der ganzen Reise konnte ich nichts sehen. Hin und wieder drangen Geräusche in die Schachtel und an mein Ohr. Ich hörte ein gleichmäßiges Rattern, wie von einem Zug. Hie und da tutete es, und manchmal waren gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Einmal wurde die Schachtel für einen Moment geöffnet, und ich blickte in ein dickes Gesicht, das zu einem Kopf gehörte, auf dem eine Uniformmütze saß. Das Gesicht grinste, als es mich erblickte. Anschließend schloss der Deckel sich wieder.
Von da an blieb ich eine Ewigkeit im Dunkeln. Zumindest kam es mir so vor. Bis ich kein Rattern und Tuten mehr hörte, sondern die lieblichen Klänge eines Musikinstruments, die durch den Karton an mein Ohr drangen. Ich dachte lange nach, bis mir klar war, dass es nur eine Violine sein konnte, die so atemberaubend schön spielte.
Danach hörte ich Applaus. Dann sprach ein Mann so laut, dass ich es sogar in der Schachtel gut verstehen konnte.
»Meine Damen und Herren, der Preis des Musizierwettbewerbs geht in diesem Jahr an den elfjährigen Salomon Morgenstern für seine wundervolle Interpretation von Peter Iljitsch Tschaikowskys Suite ›Der Nussknacker‹ auf der Violine.«
Wieder war lang anhaltender Beifall zu hören. Dann ging der Deckel meiner Schachtel auf. Ich sah grelles Licht und Blitze. Ich erkannte den Mann mit dem Schnauzbart, daneben einen Jungen in einem dunkelblauen Samtanzug mit weißer Fliege und roten Bäckchen, die wie polierte Äpfel glänzten. Der Junge, der auf einer großen Bühne stand, nahm mich mit seinen schwitzigen Händen in Empfang, während im Parkett und auf den Rängen applaudiert wurde.
Der Junge strahlte. Der Mann mit dem Schnauzbart ebenso. Auch ich gab mein Bestes, obwohl das grelle Licht mich
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