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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Exponat.«
    Schmitt-Radolf stand auf einmal hinter den beiden Frauen und lächelte. Die Damen zuckten zusammen und grinsten verlegen.
    »Oh ja. Wundervoll, Herr Schmitt-Radolf! Diese Farben, diese Formen!«
    »Exquisit!«
    »Merveilleux!«
    »Wo Sie nur immer diese ausgefallenen Kunstwerke herbekommen, lieber Herr Schmitt-Radolf.«
    »Chapeau! Sie sind wirklich ein Kenner.«
    Heuchlerische Schlangen , dachte ich und streckte ihnen in Gedanken die Zunge raus.
    * * *
    Die Zeit verging, und die Feste bei Schmitt-Radolf wurden immer weniger. Dann war es plötzlich ganz vorbei mit den Feiern. Der Grund war der »Schwarze Freitag« und die anschließende Weltwirtschaftskrise. Die Aktien purzelten in den Keller. Das Geld war plötzlich wieder viel weniger wert. Es war so ähnlich wie vor Jahren bei der Inflation, an die ich mich noch gut erinnern konnte. Von heute auf morgen ging es vielen Menschen, die zuvor noch ganz gut gelebt hatten, hundsmiserabel. Sie wurden immer ärmer und verloren fast alles.
    Mit dem Feiern war es aus. Auch Herrn Schmitt-Radolf verging die Sektlaune. Hin und wieder verkaufte er eines der Bilder aus dem Salon. Dann den Flügel. Ich hoffte, dass er auch mich irgendwann verscherbeln würde. Alles war besser, als hier zu versauern.
    Aber denkste.
    * * *
    Die Wirtschaftskrise ging vorüber, aber die Zeiten wurden nicht viel besser.
    Schmitt-Radolf saß jetzt immer öfter in seinem Lehnstuhl, trank Cognac und jammerte vor sich hin.
    »Sechs Millionen Arbeitslose! Wo soll das bloß enden?«, fragte er offenbar sich selbst, da schon lange keine Gäste mehr kamen. Auch Frau Sorge war nicht mehr da.
    Ich wusste auch nicht, wo das enden sollte. Ich wusste nur, dass ich noch immer hinter Glas stand und dabei langsam aber sicher alle Hoffnung verlor. Meine Laune wollte sich durchnichts mehr aufhellen lassen. Ich war wie in einen dunklen Sack gehüllt.
    Als ich mich schon damit abgefunden hatte, ein Leben lang hinter diesen Scheiben zu stehen und mich zu Tode zu langweilen, geschah in einer Nacht, als der Mond voll und prall über der Villa hing, etwas Außergewöhnliches.
    Zuerst hörte ich das Klirren von Glas. Ich dachte noch, schlecht geträumt zu haben, als ich einen Lichtkegel an der Wand entlanghuschen sah.
    Dann tauchten drei Gestalten auf. Sie trugen Overalls und Handschuhe und hatten sich Pudelmützen übers Gesicht gezogen, obwohl es Sommer war und so heiß, dass kurze Hosen angesagt gewesen wären, sogar in der Nacht. Die drei nahmen die Bilder von den Wänden, packten Porzellanvasen in Taschen und hoben dann auch meine Glasvitrine vom Sockel.
    »Schau dir das an!«, sagte einer ganz leise.
    »Ein Nussknacker!«
    »Pissgelb!«
    Sie lachten.
    »Sollen wir den vielleicht auch mitnehmen?«
    Sie schauten sich unschlüssig an.
    Bitte, bitte, nehmt mich mit!, flehte ich.
    Das Bitten half. Einer der Männer nahm mich vom Sockel und warf mich zu den Vasen in die Tasche.
    Danke , dachte ich. Nichts wie weg hier!
    * * *
    »Der ist ja kaputt! Kann das Maul nicht bewegen!«
    »Schmeiß ihn in die Kiste, das geht alles zum Trödler!«
    Schon landete ich zwischen defekten Haushaltsgeräten,einer aufgeschlitzten Handtasche, gläserlosen Brillen und Puppen, denen entweder die Arme oder Beine fehlten. Vielen Menschen blieb in diesen Zeiten nichts anderes übrig, als solche alten, teilweise notdürftig reparierten Gegenstände zu kaufen. Neue konnte sich kaum jemand leisten.
    Der Trödler nahm mich aus der Kiste, kratzte mit dem Fingernagel an mir herum, sodass ein bisschen von der gelben Farbe abblätterte, und murmelte »Schönes Stück, um neunzehnhundert, aus Bayern, vermutlich Oberammergau« vor sich hin.
    Exakt, hätte ich sagen können. Ein Kenner! Aber ich hielt mich zurück.
    Mit Schmirgelpapier schruppte er an mir herum. Es staubte. Die gelbe Farbe wurde immer dünner und verschwand schließlich ganz.
    »Wer sagt’s denn! Das sieht doch schon viel besser aus«, sagte der Trödler. »Jetzt noch ein bisschen Farbe auf den nackten Körper, und du siehst aus wie neu.«
    Er nahm Pinsel und Farbtuben und strich mich an.
    »Jetzt musst du nur noch trocknen, dann bist du wieder ganz der Alte.«
    Nicht ganz, wollte ich sagen, der Mantel war früher blau und nicht rot. Ansonsten aber hatte der Trödler recht. Ich sah wieder genauso aus wie vor zweiunddreißig Jahren. So ähnlich fühlte ich mich auch. Ich stand im Schaufenster und wartete darauf, dass jemand mich haben wollte.
    Vergeblich.
    * * *
    Eines Tages blieb

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