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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Krankheit vorübergehend geschlossen.
    Er setzte sich in seinen Ohrensessel, kreidebleich im Gesicht, trank eine halbe Flasche Kirschlikör, die seine Frau im Küchenschrank versteckt hielt, und starrte so lange Löcher in die Luft, bis seine Frau rief: »Simon, was ist denn?«
    Simon nahm noch einen Schluck aus der Kirschlikörflasche. Er sah seine Frau an, dann seinen Sohn, der gerade mit dem Schulranzen bepackt auf dem Weg zum unterricht war. Schließlich starrte er wieder teilnahmslos in die Luft und sagte: »Jetzt wird’s ernst.«
    Salomon und seine Mutter schnappten sich die Zeitung undlasen, dass Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt worden sei.
    »Wer ist Adolf Hitler?«, fragte Salomon seinen noch immer kreidebleich im Ohrensessel sitzenden Vater.
    Der blickte jetzt mit wässrigen Augen seinen Sohn an und sagte leicht nuschelnd: »Das ist ein Mensch, der uns vernichten will. Dich, mich, Mutter und alle, die einen anderen Glauben haben, anders aussehen oder anderer Meinung sind als er selbst.«
    Dann machte er wieder eine Pause, sah erneut seine Frau an, dann Salomon, und wiederholte fast lautlos: »Jetzt wird’s ernst.«
    * * *
    Am Nachmittag, als die Mütter mit ihren Kindern vor der verschlossenen Praxistür standen und besorgt an Dr. Morgensterns Wohnung klingelten, sperrte er die Praxis schließlich wieder auf. Er warf das Schild in den Papierkorb und untersuchte wie immer die Kinder nach Krankheiten.
    Auf dem Weg zur Schule fielen Salomon jetzt die Männer in den braunen Uniformen deutlicher auf. Sie beherrschten zusehends das Stadtbild.
    Von dem Tag an, als Salomons Vater »Jetzt wird’s ernst« gesagt hatte, war ich, Salomons Glücksbringer, immer mit dabei. In der Schultasche, im Sportbeutel, in der Innentasche seines Anoraks oder in einer Stofftüte neben dem Geigenkoffer – Salomon fand immer ein Plätzchen für mich. Ohne Talisman wollte er von nun an das Haus nicht mehr verlassen.
    Keine zwei Wochen später war Salomons Lehrerin Frau Weniger verschwunden. An ihrer Stelle stand ein großerMann vor der Klasse und sagte: »Ab jetzt weht hier ein anderer Wind!«
    Es hörte sich komisch an, so schneidig und zackig, wie er es sagte. Manche Kinder mussten schmunzeln. Ein Mädchen in der letzten Reihe kicherte.
    »Ruhe!«, brüllte Lehrer Schulz. »Aufstehen!«
    Das Mädchen erhob sich. Es kicherte nicht mehr.
    »Wie heißt du?«
    »Adelheid.«
    »Weiter!«
    »Adelheid Müller.«
    Mist , dachte Salomon, meine Adelheid, ich muss ihr helfen . Er streckte den Arm nach oben und schnalzte mit den Fingern.
    »Jetzt nicht!«, rief der Lehrer. Dann brüllte er Adelheid an: »Hände vor!«, und schlug mit dem großen Lineal zweimal auf ihre Handflächen. Die anderen Kinder zuckten zusammen. Adelheid schrie nicht und jammerte nicht. Sie biss die Zähne zusammen, wobei ihr Tränen über die Wangen liefen.
    So etwas wie Lehrer Schulz tut Fräulein Weniger nie , dachte Salomon. Das also schien »der andere Wind« zu sein.
    »Und jetzt ab in die Ecke!«, schnauzte Lehrer Schulz Adelheid an, die bis zum Ende des unterrichts in einer Ecke des Klassenzimmers stehen musste, mit dem Gesicht zur Wand.
    »Du da!«, sagte der Lehrer leiser als zuvor, aber noch immer zackig, und zeigte mit dem Lineal auf Salomon. »Wie heißt du?«
    »Salomon Morgenstern.«
    »Steh auf, wenn du mit mir sprichst!«, schrie Schulz. »Jude?«
    Salomon nickte.
    »Alle Juden aufstehen!«, brüllte Schulz.
    Fast die Hälfte der Schüler erhob sich. Auch Adelheid stand noch immer, obgleich sie keine Jüdin war.
    Salomons Knie zitterten. Wieder zeigte der Lehrer mit dem Lineal auf ihn.
    »Und was willst du sagen?«
    Salomon wollte eigentlich gar nichts sagen, er wollte Adelheid helfen. Aber Adelheid war nicht mehr zu helfen. Dafür stand Salomon nun selbst mit ziemlich wackligen Beinen im Schlamassel. Er wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Er merkte, dass Herr Schulz immer ungeduldiger wurde, bis er schließlich »Na, was ist jetzt?« schrie.
    »Wo ist Fräulein Weniger?«, platzte es aus Salomon hervor.
    Die anderen Kinder zuckten zusammen. Plötzlich war es totenstill. Nur die Rohre der Kohleheizung bollerten. Alle schauten auf Salomon. Dann auf Lehrer Schulz. Sogar Adelheid linste heimlich aus ihrer Ecke hervor.
    Lange sagte Schulz nichts. Er schien nachzudenken. Dann räusperte er sich immer wieder, als hätte er einen Frosch verschluckt. Einen ganzen Teich. Oder als wollte er Anlauf nehmen, um etwas besonders Gemeines zu sagen. Wider

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