Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
beugte, konnte ich auf die Straße gucken.
Ein idealer Platz , dachte ich.
»Der beste Platz für dich«, sagte Salomon, der meine Gedenken zu lesen schien. Offenbar würden wir uns in Zukunft bestens verstehen.
Das war auch gut so, weil es schon genug gab, was ich und Salomon nicht verstanden. Zum Beispiel, was es mit dem Durcheinander auf den Straßen auf sich hatte. Noch vor dem Abendessen fragte Salomon seinen Vater nach den Nazis . Die Mutter war in der Küche und hantierte mit Töpfen und Schüsseln. Der Vater setzte sich ins Wohnzimmer auf den Ohrensessel, steckte sich eine Pfeife an, schmauchte und blickte seinenSohn dabei lange an. Dann sagte er nachdenklich: »Das sind Leute, die nichts Gutes im Schilde führen. Die uns Böses wollen. Dir, mir, deiner Mutter und allen anderen, die einen anderen Glauben haben, anders aussehen oder anderer Meinung sind als sie selbst.«
»Und was können wir dagegen tun?«
Der Vater hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, hörte Salomon ihn zum ersten Mal sagen. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Dem Vater, der ein gebildeter Mann war, der viele Jahre studiert hatte, in jeder freien Minute ein Buch oder die Zeitung in der Hand hielt, über alles Bescheid wusste und normalerweise zu allem und jedem etwas zu sagen hatte. Nun fiel ihm das erste Mal nichts ein. Er war ratlos und schien kein Vertrauen in die Zukunft zu haben.
»Wenn es ganz schlimm kommt, müssen wir von hier weg«, sagte er schließlich. »Aber sag Mama noch nichts davon.«
»Aber wohin können wir denn?«, fragte Salomon.
Wieder zuckte der Vater mit den Schultern und blickte traurig dem sich auflösenden Rauch seiner Pfeife hinterher.
»Essen ist fertig!«, rief Salomons Mutter aus der Küche.
* * *
Ein halbes Jahr lang ging alles gut. Auf den Straßen waren zwar immer mehr Männer in braunen Uniformen zu sehen, die ständig den rechten Arm hoben. Ansonsten konnten Salomon und ich von dem Spuk aber noch nicht viel erkennen.
Salomon ging jeden Tag zur Schule und übte anschließend bei Herrn Rosenfeld, dem Mann mit dem Schnauzbart, der mich nach Berlin gebracht hatte, in der städtischen Musikschule in Einzel- und Gruppenunterricht auf seiner Violine.
Danach saß er mit Adelheid, die ebenfalls bei Herrn Rosenfeld Geigenunterricht bekam, meist im Eiscafé Brenner und ließ sich von den köstlichen Eiskreationen den Gaumen schmeicheln. Adelheid spielte nicht nur Geige wie Salomon, sie war auch in derselben Klasse wie er und genauso alt. Außerdem verstanden die beiden sich nicht nur beim Geigenspiel ausgezeichnet. Das war mir von Anfang an aufgefallen, und nicht nur mir. Manche Klassenkameraden tuschelten auf dem Pausenhof hinter vorgehaltener Hand: »Die beiden haben was miteinander!« und grinsten dümmlich.
»Purer Neid!«, war Salomons Kommentar.
Und Adelheid streckte den Stielaugen und Neidhammeln die Zunge heraus.
Ständig hingen die beiden zusammen. Oft war Adelheid auch bei Salomon zu Hause. Dann übten sie gemeinsam, direkt unter mir, vor den Notenständern. Manchmal blieb Adelheid auch zum Abendessen bei den Morgensterns. Nur über Nacht durfte sie nicht bleiben.
»Da hat Papa was dagegen«, sagte sie.
Ihr Vater hatte offenbar auch etwas dagegen, dass Salomon zu ihr nach Hause kam.
»Das geht nicht!«, sagte Adelheid.
Vielleicht war es aber auch Adelheid selbst, die es nicht wollte.
Wenn die beiden nicht Geige übten oder bei den Morgensterns waren, gingen sie ins Schwimmbad. Sie spielten an der Spree bei den Booten oder waren im Zoo, »Affen ärgern«. Manchmal war ich dabei.
»Warum schleppst du den Nussknacker überallhin mit?«, fragte Adelheid irgendwann.
»Das ist mein Talisman«, sagte Salomon.
Adelheid betrachtete mich daraufhin misstrauisch von oben bis unten, während Salomon ihr ins Ohr flüsterte: »Der Nussknacker weiß alles, weil ich ihm alles erzähle. Keine Angst, der hält dicht!«
Ich nickte. Adelheid tippte sich an die Stirn, als hielte sie Salomon für verrückt.
»Schreibst du Tagebuch?«, fragte Salomon.
Adelheid war verwirrt. Sie wackelte mit den Schultern und wurde ein wenig rot im Gesicht. Eindeutige Zeichen , dachte ich. Natürlich führte sie ein Tagebuch.
»Na, siehst du«, sagte Salomon. »Das ist mein Tagebuch, aus Holz.«
Er zeigte auf mich. Adelheid lachte.
* * *
Ende Januar 1933 hängte Salomons Vater an einem Montagmorgen, nachdem er einen Blick in die Zeitung geworfen hatte, ein Schild an seine Praxistür, auf dem zu lesen stand: Wegen
Weitere Kostenlose Bücher