Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Erwarten schrie er nicht wie zuvor, sondern sagte schließlich leise, beinahe flüsternd, sodass es noch viel unheimlicher klang: »Da, wo sie hingehört!«
Er räusperte sich wieder und fügte ebenso leise hinzu: »Und wo in Zukunft noch viel mehr hingehören werden.«
Wo das war, wollte er nicht sagen.
Dann mussten sich die anderen Schüler ebenfalls erheben, und es wurde den ganzen Morgen der Hitlergruß geübt. Am Ende sagte Lehrer Schulz in zackigem Ton: »Ab jetzt wird jeden Morgen mit ›Heil Hitler‹ gegrüßt, verstanden?«
Niemand wagte Nein zu sagen.
Dann hob er den rechten Arm, brüllte »Heil Hitler!« und verließ das Klassenzimmer.
* * *
Nach dem Geigenunterricht trafen sich Adelheid und Salomon weiterhin regelmäßig im Eiscafé Brenner. Im Sommer aßen sie Eisbecher, im Winter tranken sie heiße Schokolade. Die alte Frau Brenner kümmerte sich rührend um die beiden. Adelheid und Salomon saßen am hintersten Tisch, der normalerweise für das Personal reserviert war. Salomon war im Eiscafé Brenner fast alles erlaubt. Frau Brenner behandelte ihn, als wäre er ihr Enkel. Der Grund dafür war Salomons Vater. Frau Brenner fühlte sich ihm zu Dank verpflichtet, weil er ihrem Max, der mittlerweile erwachsen war, nach dem Stich einer Biene in den Mund das Leben gerettet hatte.
»Wäre Dr. Morgenstern nicht gewesen«, sagte sie immer, »wäre alles ganz anders gekommen.«
»Was?«, fragte Salomon, und Frau Brenner erzählte jedes Mal dieselbe Geschichte. Die Geschichte mit dem Bienenstich und dem Luftröhrenschnitt. Die Kinder saßen am Personaltisch, hörten aufmerksam zu und aßen dabei Eis oder tranken Schokolade. Am Ende hatten sie Schnauzbärte aus Schokolade, und Frau Brenner standen Tränen in den Augen. Jedes Mal zum Abschluss sagte sie: »Deshalb kriegt sein Bub jetzt lebenslang Frei-Eis und Frei-Schokolade.«
Die Kinder lachten. Frau Brenner schaute zu Adelheid und fügte hinzu: »Und seine kleine Freundin auch.«
Danach machten die beiden gemeinsam Hausaufgaben oder ließen sich durch ihr Stadtviertel treiben.
»Kommst du mit zu mir?«, fragte Salomon, als beide das Eiscafé verlassen hatten.
»Ich darf nicht.«
»Warum nicht?«
»Vater hat es mir verboten«, sagte Adelheid verschämt.
»Warum?«
Adelheid schwieg. Sie sah verlegen auf den Boden.
»Weil ich Jude bin, stimmt’s?«
Adelheid nickte.
»Und du hältst dich daran?«
»Spinnst du?«, entgegnete sie und lächelte.
Frau Brenner stand in der offenen Ladentür und rief: »Grüße an den Herrn Doktor!«
Sie winkte den beiden hinterher.
* * *
Eines Morgens kam Adelheid mit einem blauen Auge in die Schule. Alle lachten. Manche sagten »Sieht aus wie ’n Knutschfleck von ner Planierraupe!«
Lehrer Schulz brüllte: »Ruhe! Was ist passiert?«
»Ich bin hingefallen«, sagte Adelheid.
Wieder kicherten alle.
»Ruhe!«, brüllte Schulz. »Setzen!«
»Und was ist wirklich passiert?«, fragte Salomon in der Pause.
»Mein Vater hat uns zusammen gesehen.«
»Und jetzt?«
»Wir müssen vorsichtiger sein.«
Von da an sahen sich Adelheid und Salomon nur noch in der Schule. Auch im Geigenunterricht bei Herrn Rosenfeldtrafen sie sich nicht mehr. Herrn Rosenfeld wurde untersagt, in der städtischen Musikschule weiterhin die Kinder zu unterrichten, obwohl er nachweislich der beste Geigenlehrer weit und breit war.
Von da an ging auch Salomon nicht mehr in die Musikschule, sondern ließ sich von Herrn Rosenfeld zu Hause unterrichten. Herr Rosenfeld bot auch Adelheid an, bei ihm privat Geigenstunden zu nehmen, doch ihr Vater erlaubte es nicht. Offiziell hatten Salomon und Adelheid nach dem Veilchen nichts mehr miteinander zu tun. Auch auf dem Schulhof gingen sie sich aus dem Weg. Sie warfen sich nur dann verstohlene Blicke zu, wenn sie sicher sein konnten, dass niemand es bemerkte.
Heimlich aber trafen die beiden sich häufiger denn je. Irgendwie schweißte das Verbot, sich treffen zu dürfen, sie erst recht zusammen.
Ich glaube, je älter sie wurden, desto mehr verliebten sie sich ineinander. Salomon sprach aber nie direkt darüber. Er machte nur Andeutungen. Einmal sagte er, er habe Adelheid ins Herz geschlossen. Dann wieder, dass er Angst um sie hätte. Angst, dass Adelheids Vater von den heimlichen Treffen erfuhr und sie windelweich schlug. Er machte sich Gedanken darüber, ob es für Adelheid nicht besser wäre, wenn sie beide sich nicht mehr sehen würden.
»Das geht nicht!«, sagte sie, Tränen in den Augen. »Ich
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