Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Hause.‹«
»Schönes Zuhause«, meinte Adelheid bitter und spuckte ins Wasser. »Und was sagt dein Talisman?«
»Der ist auch ratlos«, sagte Salomon.
Er hatte recht.
* * *
Wieder verging ein Sommer, der Winter kam, das Frühjahr und der nächste Sommer. Der braune Spuk spukte noch immer, schlimmer und brutaler denn je. Herr Rosenfeld hatte sich getäuscht. In einem halben Jahr war gar nichts vorbei. Im Gegenteil, unvorstellbares ereignete sich.
Als Salomon von einem der abendlichen Treffen mit Adelheid nach Hause kam, standen drei Männer in langen schwarzen Ledermänteln in der Wohnung. Sie durchsuchten alle Zimmer, durchwühlten die Schubladen und lasen jeden Zettel, den sie fanden. Sie nahmen jedes Buch aus dem Regal, sahen hinter jedem Bild im Wohnzimmer nach. In Herrn Morgensterns Arbeitszimmer hoben sie sogar die Teppiche hoch. In den Schlafzimmern rissen sie die Bettdecken und Kopf kissen auf und schüttelten die Federn heraus.
»Was suchen Sie eigentlich?«, fragte Frau Morgenstern, die am Küchentisch saß und weinte, den Kopf auf die Arme aufgestützt.
»Beweise!«, zischte einer der Männer. »Tun Sie doch nicht so unschuldig!«
Wofür sie Beweise suchten, sagte er nicht.
»Wo ist Papa?«, fragte Salomon.
»Sie haben ihn mitgenommen«, schluchzte die Mutter.
»Wenn der Verdacht sich nicht bestätigt«, sagte einer der Männer, »kommt er sofort wieder frei.«
»Was für ein Verdacht?«, wollte Salomon wissen.
»Darüber dürfen wir nicht reden. Außerdem sprichst du nur, wenn du gefragt wirst, klar?«
Dann durchsuchte ihn der Mann. Salomon musste sich an die Wand stellen, die Beine spreizen und die Arme über den Kopf strecken. Dann musste er die Hosentaschen leeren und alles, was er bei sich trug, auf den Tisch legen. So entdeckte der Mann mich.
»Was ist das denn?«
Er starrte mich an, als hätte er noch nie einen Nussknacker gesehen.
»Ein Nussknacker.«
Der Mann betrachtete mich jetzt noch genauer und versuchte, meinen Mund zu bewegen.
»Ein Nussknacker soll das sein?« Er lachte. »Der kann ja nicht mal das Maul bewegen! Schaut euch das an!«, rief er so laut, dass es auch die anderen beiden hören konnten, die gerade das Wohnzimmer auf den Kopf stellten. Sie kamen in die Küche geeilt und starrten mich an. Dann lachten alle drei.
»Ein Nichtsnutz!«, riefen sie. »Damit kann man nicht mal ’ne Nuss knacken!«
»Minderwertig!«, sagte Salomon spöttisch.
Augenblicklich verstummten die drei. Einer funkelte ihn böse an.
»Genau wie du!«
Sie lachten wieder, noch lauter als zuvor, während sie immer wieder »Minderwertig!« und »Damit kann man nicht mal ’ne Nuss knacken!« wiederholten.
»Aber jemandem den Schädel einschlagen!«, flüsterte Salomon.
Wieder verstummten die Männer augenblicklich.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts hat er gesagt, gar nichts!« Frau Morgenstern stellte sich vor ihren Sohn.
»Pass bloß auf, du Rotzlöffel, sonst ziehen wir dir die Ohren lang!«
Wieder lachten sie.
* * *
Herr Morgenstern blieb in Haft. Die Kinderarztpraxis wurde geschlossen. Salomon sah seinen Vater nur noch ein Mal. Wir besuchten ihn zwei Wochen nach seiner Verhaftung im Gefängnis. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war geschwollen, seine Lippen aufgeplatzt. Sein rechtes Auge war dick und schimmerte in den verschiedensten Farben.
Frau Morgenstern weinte.
»Was haben sie mit dir gemacht?«, jammerte sie.
Herr Morgenstern antwortete nicht. Er blickte ernst vor sich hin. Dann flüsterte er Salomon etwas zu. Ich konnte es nicht verstehen.
»Nicht flüstern!«, brüllte ein Aufseher, der nur ein paar Meter von uns entfernt an der Wand stand.
»Wie soll es denn jetzt weitergehen?«, fragte Frau Morgenstern.
Herr Morgenstern wusste es nicht. Alle schwiegen. Dann wurde er wieder abgeführt.
»Denk daran«, sagte er im Weggehen zu Salomon.
»Woran sollst du denken?« Frau Morgenstern fragte es auf dem Rückweg ihren Sohn. Sie wollte wissen, was der Vater ihm zugeflüstert hatte.
»Wir sollen alles verkaufen und das Land verlassen«, sagte Salomon.
Frau Morgenstern blieb stehen. »Aber Salomon, das kann ich nicht! Ich kann Vater doch nicht alleine lassen.«
Salomon ging weiter, ohne auf die Mutter zu achten.
»Wo willst du denn hin, Salomon?«
»Wir treffen uns zu Hause.«
Er verschwand mit mir im umhängebeutel.
* * *
Als Salomon am Café Brenner vorbeikam und gerade den Laden betreten wollte, kam Frau Brenner herausgestürzt und hielt ihn davon ab, das
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