Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
brauche dich.«
»Ich dich auch!«
Es war rührend. Beinahe wären auch meine Augen feucht geworden.
* * *
Der nächste Winter kam, dann das Frühjahr, dann der Sommer.
Salomon war nun fünfzehn Jahre alt. Er ging noch immer zu Herrn Rosenfeld in den Geigenunterricht. Die Schule besuchte er nicht mehr. Nachdem immer mehr jüdische Kinder aus der Klasse verschwanden, weil entweder die Eltern weggezogen waren oder weil es den Schülern nicht mehr erlaubt war, die Schule zu besuchen, musste auch Salomon schließlich zu Hause bleiben. Herr Rosenfeld unterrichtete ihn ab jetzt nicht nur im Geigenspiel. Er brachte ihm auch noch Mathematik, Englisch und Biologie bei.
Manchmal saß Salomon mit seinen Eltern staunend und gleichzeitig beunruhigt vor dem Volksempfänger. Sie hörten eine bellende Stimme, die davon sprach, dass es »minderwertige« Menschen gäbe und andere, die »rassisch höherwertig« seien. Sie hörten von einem »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«. Sie hörten, dass die Juden »Menschen minderen Rechts« seien. Der Mann mit der bellenden Stimme rief, die Juden seien nichts wert und müssten »abgesondert« werden, damit keine »Durchmischung« stattfände. Es war von nun an verboten, dass Juden Nicht-Juden heirateten.
Frenetischer Applaus war im Volksempfänger zu hören. Menschen jubelten und schrien: »Heil Hitler! Heil unser Führer!«
»unser unglück«, sagte Herr Morgenstern.
»Der ist doch nicht ganz dicht!«, meinte Salomon.
»Auf jeden Fall ist er wild entschlossen, uns zu vernichten.«
»Aber Simon, das kann ich gar nicht glauben! Das lassen die anderen doch niemals zu!« Frau Morgenstern versuchte das unglaubliche zu begreifen.
Herr Morgenstern schaute sie traurig an. Dann zog er die Vorhänge zu. Er drehte den Volksempfänger leiser und stellte einen anderen Sender ein. Die Stimme war jetzt nur noch ganz verrauscht zu hören. Jemand sprach Englisch. Salomon konnte verstehen, dass schon wieder Schriftsteller, Journalisten, über siebenhundert Pfarrer und zahlreiche Juden festgenommen und in die sogenannten Konzentrationslager abtransportiert worden waren.
»Glaubst du’s jetzt?«
Frau Morgenstern weinte.
* * *
Die Olympischen Spiele 1936 fanden in Berlin statt. Rote Fahnen mit Hakenkreuzen wehten in der ganzen Stadt und im Stadion. Die Hakenkreuzfahne war jetzt die neue deutsche Reichsflagge. Es gab Aufmärsche von uniformierten, Paraden, Massenkundgebungen und Fackelzüge. Menschen, die begeistert feierten und dem kleinen Mann mit der bellenden Stimme und dem mickrigen Schnauzbart zujubelten.
Salomon traf Adelheid noch immer heimlich und regelmäßig. Meistens abends, wenn es schon dunkel war, an der Spree, wo tagsüber die Fischer angelten. In einem alten, verfallenen Transformatorenhäuschen saßen sie stundenlang beieinander. Sie redeten und überlegten, was man gegen diesen »Spuk« tun könne.
»Man muss sich wehren«, sagte Adelheid.
»Du hast leicht reden«, entgegnete Salomon. »Aber wie? Vater sagt, man hat nur die Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen und einfach wegzugehen.«
»Das wollen die doch bloß. Darauf legen die’s doch an!«
»Wenn schon.«
»Aber wohin?«, fragte Adelheid. »Wohin könnt ihr denn gehen?«
»Das fragt Mutter auch immer. Sie sagt, hier ist unsere Heimat. Sie will hier nicht weg. Sie sagt, wir sind hier geboren. Wir sind Deutsche wie alle anderen.«
»Da hat sie recht«, meinte Adelheid. »Aber jetzt sollen alle Juden ihren deutschen Pass zurückgeben.«
»Was?«
»Ich habe gehört, wie mein Vater es zu Mama sagte. ›Dann werden wir dieses ungeziefer endlich los sein‹, hat er gesagt.«
»Hat er wirklich ›ungeziefer‹ gesagt?«
Adelheid blickte beschämt zu Boden. Dann tippte sie sich an die Stirn. »Jetzt will er auch noch, dass ich zur Hitler-Jugend gehe, zum Bund Deutscher Mädel.«
»Was sollst du denn da?«
»Blöde Klamotten tragen, idiotische Lieder singen und dem Führer dienen.«
»Und? Machst du’s?«
»Spinnst du?« Wieder tippte sie sich an die Stirn.
»Was willst du tun?«
»Mich wehren.«
»Aber wie?«
»Keine Ahnung.«
Sie schwiegen eine Weile, hörten dem Fluss zu. Frösche quakten, Fische streckten den Kopf aus dem Wasser. Es gluckerte. Wellen schwappten ans ufer.
»Vater sagt, wir könnten ins Ausland gehen«, sagte Salomon schließlich. »Nach Zürich oder Paris. Oder nach Amerika. Aber Mutter will nicht. ›Ich kann nicht‹, sagt sie. ›Ich bin hier zu
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