Der Oligarch
Russland gekommen? Gefesselt und geknebelt? Betäubt oder bei Bewusstsein? Als die Maschine aufsetzte, verbannte er solche Fragen aus seinem Kopf. Es gab keine Chiara, sagte er sich. Es gab keinen Charkow. Es gab nur Aaron Davis, Mitarbeiter des US-Präsidenten, Träumer amerikanischer Träume, der jetzt kurz vor seiner ersten offiziellen Begegnung mit den russischen Behörden stand.
Die Wartenden standen auf dem beleuchteten Vorfeld und stampften in der klirrenden Kälte mit den Füßen, als Gabriel und die Secret-Service-Agenten über die herabgelassene Heckrampe von Bord gingen. Neben der russischen Delegation warteten Angehörige der US-Botschaft, von denen einer ein unangemeldeter CIA-Offizier in der Rolle eines Diplomaten war. Die Russen begrüßten Gabriel lächelnd, drückten ihm freundlich die Hand und stempelten seinen Pass ab, ohne mehr als einen flüchtigen Blick hineinzuwerfen. Im Gegenzug schenkte Gabriel jedem von ihnen ein kleines amerikanisches Goodwill-Zeichen: Manschettenknöpfe mit einer Darstellung des Weißen Hauses. Wenige Minuten später saß er hinten in einer Limousine der US-Botschaft, die über den Leningradskij Prospekt in Richtung Stadtmitte brauste.
Größe war den Russen schon immer wichtig gewesen, und wer einige Zeit bei ihnen verbringt, entdeckt bald, dass dort fast nur Superlative existieren: das größte Land, die größte Glocke, das größte Schwimmbad. Aber selbst wenn der Leningradskij Prospekt nicht die längste Straße der Welt war, so war er sicher die hässlichste – ein Konglomerat aus verfallenden Wohnblocks und stalinistischen Monstrositäten, das von zahllosen Neonröhren und uringelben Natriumdampflampen erhellt wurde. Am Prospekt waren Kommunismus und Kapitalismus zusammengeprallt, und das Ergebnis war ein urbaner Albtraum. Die von den Russen so sorgfältig angebrachten G8-Spruchbänder sahen mehr wie Warnungen vor dem Schicksal aus, das alle Staaten erwartete, die ihre Finanzen nicht in Ordnung brachten.
Gabriel spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, je näher sie dem Kreml kamen. Als sie am Dynamo-Stadion vorbeifuhren, zeigte ihm der CIA-Mann ein Satellitenfoto der Datscha im Birkenwald. Dort standen jetzt nicht mehr zwei, sondern drei Range Rover, und in ihrer näheren Umgebung waren deutlich vier Männer zu erkennen. Gabriels Blick wurde wieder von den parallelen Vertiefungen in der Nähe des Hauses angezogen. Seit dem letzten Überflug schien sich etwas verändert zu haben. Am Ende einer Vertiefung zeichnete sich ein dunkler Fleck ab, als sei dort vor Kurzem im Schnee gegraben worden.
Als Gabriel dem CIA-Mann das Foto zurückgab, fuhr ihr Wagen die Twerskaja ulitsa entlang. Direkt vor ihnen ragte in einer Ecke des Kremls der Arsenalturm auf; der rote Stern auf seiner Spitze erinnerte eigenartig an das Markenzeichen einer holländischen Biersorte, die heute in allen Moskauer Kneipen ausgeschenkt wurde. An Gabriels Fenster flitzte die noch dunkle Front des Galaxy-Trav el-Reisebüros vorbei, dann kam die kleine Seitenstraße, in der Wiktor Orlows Freund Anatolij gewartet hatte, um Irina Bulganowa abzupassen und zum Abendessen einzuladen.
Hundert Meter hinter Irinas Reisebüro mündete die Twerskaja ulitsa in die zwölfspurige Ochotny Riad. Dort bogen sie links ab und fuhren rasch an der Staatsduma, dem Allunionshaus und dem Bolschoitheater vorbei. Das nächste Baudenkmal, das Gabriel sah, war eine von Scheinwerfern angestrahlte Festung aus gelbem Stein, die direkt vor ihnen über dem Lubjanka-Platz aufragte – die ehemalige KGB-Zentrale, jetzt die Zentrale des FSB, des Inlandsgeheimdiensts der Russischen Föderation. In jedem anderen Land wäre dieses Gebäude in die Luft gejagt und seine Schrecken dem heilenden Licht des Tages ausgesetzt worden. Nicht jedoch in Russland. Die neuen Herren hatten einfach ein neues Schild angebracht und die schrecklichen Geheimnisse so vergraben, dass sie nicht auffindbar waren.
Ein kleines Stück hügelabwärts von der Lubjanka stand am Teatralny Prospekt das berühmte Hotel Metropol. Mit der Reisetasche in der Hand segelte Gabriel in typisch amerikanischer Manier durch den Jugendstileingang, als gehöre das Hotel ihm. Die Hotelhalle, leer und still, erstrahlte nach ihrer Renovierung in einstigem Glanz, sodass sich Gabriel fast vorstellen konnte, wie Lenin und seine Anhänger hier bei Tee und Teegebäck den Roten Terror geplant hatten. Am Empfang stand kein einziger Gast; trotzdem musste Gabriel eine Ewigkeit warten,
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