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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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bevor der Chruschtschow-Doppelgänger hinter der Theke ihn zu sich heranwinkte. Nachdem er das ellenlange Anmeldeformular ausgefüllt hatte, lehnte Gabriel das halbherzige Angebot eines Pagen, seine Tasche zu tragen, dankend ab und fuhr allein in sein Zimmer hinauf. Inzwischen war es kurz vor fünf. Er stand am Fenster, hielt das Kinn mit einer Hand umfasst, legte den Kopf leicht schief und wartete auf den Sonnenaufgang über dem Roten Platz.

58 M OSKAU
    Obwohl die weltweite Finanzkrise allen Industriestaaten gewaltig zugesetzt hatte, waren nur wenige Staaten schneller und tiefer abgestürzt als Russland. Dank des raketenhaft steigenden Ölpreises war die russische Wirtschaft in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends in schwindelerregendem Tempo gewachsen, nur um dann ebenso schnell einzubrechen, als der Ölpreis fiel. Auf dem russischen Aktienmarkt herrschten chaotische Zustände, das Bankensystem lag in Trümmern, und die einst so gefügige Bevölkerung forderte lautstark staatliche Unterstützung. In den Außenministerien und bei den Geheimdiensten des Westens wuchs die Befürchtung, die Schwächung der russischen Wirtschaft könnte den Kreml dazu provozieren, sich noch mehr in eine Kalter-Krieg-Haltung zurückzuziehen – eine Auffassung, die mehrere europäische Staats- und Regierungschefs teilten, deren Staaten zunehmend von russischen Erdgaslieferungen abhängig waren. Aus dieser Sorge heraus hatte man beschlossen, den G8-Sondergipfel in Moskau abzuhalten. Wenn man dem Rowdy Respekt erwies, so dachte man, würde er sich vielleicht besser benehmen. Zumindest war das die stille Hoffnung.
    Hätte der G8-Gipfel in einem der anderen Staaten stattgefunden, hätten die dortigen Medien die Ankunft der Staats- und Regierungschefs und ihrer Delegationen kaum zur Kenntnis genommen. Aber der Gipfel fand in Russland statt, und Russland war trotz aller gegenteiligen Behauptungen kein normaler Staat. Seine Medien gehörten dem Staat oder wurden von ihm kontrolliert, und so gingen die Fernsehsender bei jedem Flugzeug, das mit einem Staats- oder Regierungschef an Bord aus dem bleigrauen Himmel über Scheremetjewo zur Landung ansetzte, auf Sendung. Glaubte man den Berichten russischer Journalisten, kamen die westlichen Spitzenpolitiker auf persönliche Einladung des russischen Präsidenten nach Moskau. Die Welt befinde sich in Aufruhr, warnten die Journalisten, und nur Russland könne sie retten.
    Im Vergleich dazu musste das Ansehen des amerikanischen Präsidenten natürlich leiden. Sobald sein Flugzeug am Horizont erschien, bauten sich mehrere russische Kommentatoren vor den Kameras auf, um ihn und alles, was er verkörperte, scharf zu kritisieren. An der Weltwirtschaftskrise sei Amerika schuld, schrien sie. Amerika sei durch Gier und Überheblichkeit abgestürzt und drohe nun, die ganze Welt mitzureißen. Amerikas Sonne gehe unter, Gott sei Dank.
    In den Salons und Restaurants des Hotels Metropol hörte Gabriel kaum eine abweichende Meinung. Vormittags wimmelte es dort von Journalisten und Bürokraten, die ihre offiziellen G8-Ausweise so stolz trugen, als gewähre eine Plastikkarte an einem Nylonband ihnen Zugang zu den innersten Kreisen von Macht und Prestige. Gabriels Ausweis war blau, was signalisierte, dass er dort Zutritt hatte, wo gewöhnliche Sterbliche draußen bleiben mussten. Er hing um seinen Hals, als er unter der farbigen Glaskuppel des berühmten Metropol-Restaurants ein leichtes Frühstück einnahm, wobei er seinen BlackBerry, an dem er arbeitete, als Schutzschild benutzte. Beim Verlassen des Restaurants wurde er von einer Gruppe französischer Journalisten abgefangen, die wissen wollten, was er von dem neuen amerikanischen Plan zur Belebung der Weltwirtschaft halte. Obwohl Gabriel ihren Fragen geschickt auswich, ließ er die Franzosen sichtlich beeindruckt zurück, weil er ihre Muttersprache fließend beherrschte.
    Von der Hotelhalle aus sah Gabriel mehrere amerikanische Journalisten am Ausgang zum Teatralny Prospekt herumlungern und nahm daher lieber den Ausgang zum Revolutionsplatz. Im Sommer war die Esplanade voller Stände, an denen es von Pelzmützen über Matroschkas bis hin zu Büsten der Mörder Lenin und Stalin alles Mögliche zu kaufen gab. Jetzt, mitten im Winter, wagten sich dort nur die Tapfersten hin. Erstaunlicherweise war die Esplanade schnee- und eisfrei. Als der Wind einmal kurz nachließ, roch Gabriel die Enteisungsflüssigkeit, mit der die Russen dies zustande gebracht hatten. Ihm fiel

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